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Musikfestspiele
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Festival d'Aix-en-Provence 2022

Résurrection (Auferstehung)

Installation von Romeo Castellucci
Musik von Gustav Mahler (Symphonie Nr. 2 c-Moll "Auferstehung" für Sopran, Alt, gemischten Chor und Orchester


In deutscher Sprache (keine Übertitel)
Aufführungsdauer: 1h 30' (keine Pause)

Produktion des Festivals Aix-en-Provence in Koproduktion mit Abu Dhabi Festival und der Philharmonie des Paris

Premiere am 4. Juli 2022 im Stadion von Vitrolles


Homepage

Festival Aix en Provence
(Homepage)

Die Würde der Toten

Von Joachim Lange / Foto von Monika Rittershaus

Die aktuellen Musikfestspiele in Aix-en-Provence begannen diesmal mit einem Paukenschlag. Im übertragenen Sinne, denn wenn Romeo Castellucci sich von Gustav Mahlers 2. Sinfonie für sein eigenwillig verstörendes Musiktheater - oder irgendetwas zwischen Theater und Installation - inspirieren lässt, war das zu erwarten. Und natürlich auch ganz konkret, wenn der Festival-Stammgast Esa-Pekka Salonen das Orchester de Paris zu gewaltigen Ausdrücken an einem besonderen Ort animiert.

Diesmal begann das Festival weder im atmosphärischen Théâtre de l'Archevêché unter freiem Himmel, noch im vollklimatisierten Grand Théâtre de Provence, sondern in einer zum ersten Mal genutzten Spielstätte. Im letzten Jahr gab es einen Ausflug nach Arles in ein neues Kulturzentrum. Jetzt ging es 25 Kilometer nach Südwesten in Richtung Vittrolle. In der Nähe dieser kleinen Stadt gibt es ein ausgedientes, aber noch nutzbares überdachtes Stadion. Der schwarz verkleidete, bunkerartige Kubus liegt wie ein Fremdkörper in einer Mondlandschaft. Er war dennoch für einen der Busfahrer, die das Publikum zu später Stunde aus Aix heranschafften, nicht auf Anhieb zu finden. Hier gehörten schon der Weg zur und die archaische Abgeschiedenheit der Spielstätte irgendwie zur Inszenierung.

Foto kommt später

Auf der Homepage des Festivals wird ausdrücklich darüber informiert, dass Romeo Castellucci das Konzept für diese Installation (wie es treffend heißt) bereits ein Jahr vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine konzipiert hat. Der Hinweis macht Sinn, denn sonst könnte man das Ganze auch als eine sehr plakative Übersetzung von Nachrichtenbildern in eine Kunstaktion ansehen.

Ist es aber nicht. Sondern wie meistens bei ihm sehr viel fundamentaler - auch wenn sich die Verbindung zwischen der Musik und seinen archaischen Bildern nur über weitgespannte Assoziationsbrücken einstellt. In diesem Falle ist der Zusammenhang gleichwohl verblüffend klar und schockierend direkt. Er nimmt "Auferstehung" nicht als das zentrale Element der christlichen Glaubenserzählung, sondern ganz direkt als hilfloses menschliches Tun, das dem Tod oder dem Sterben machtlos und verzweifelt gegenübersteht.

Castellucci hatte sich schon mehrfach als ein Grenzgänger zwischen Leben und Tod versucht. 2012 hatte er in Paris mit seinem Stück Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn polizeilichen Schutz von empörten Katholiken herausgefordert. 2016 in den Hamburger Deichtorhallen ging es bei seiner Bebilderung von Bachs Matthäus-Passion konfliktfrei zu. Hier konfrontierte er das Sterben im Lichte der christlichen Überlieferung mit Gegenständen, denen er die Bedeutung im wahrsten Wortsinn zuschrieb, aber nicht szenisch entwickelte, sondern mehr zu einer Folge von Kurzschlüssen mit der überlieferten Passionsgeschichte verarbeitete.


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In Südfrankreich gelingt ihm allerdings die Aufladung mit einem großen Bild. Der besondere Raum mit seiner extrem steil ansteigenden Zuschauertribüne erlaubt einen Blick in die Tiefe des weiten offenen Orchestergrabens und auf die Spielfläche dahinter. Ein karges erdiges "Spiel"-Feld, von dem rechts und links eine Tür ins Freie führt. Noch vor der Musik taucht ein leibhaftiger Schimmel auf, schreitet einmal über die matschige unebene Fläche, sucht nach Wasser. Erstaunlich, wie Tiere bei solchen Gelegenheiten mitspielen, als wüssten sie, was sie tun. Als die Betreuerin den Raum betritt und nach dem Tier ruft, kommt es auf sie zu und beide setzen die Erkundung der unwirtlichen Fläche gemeinsam fort. Bis Pferd und Mensch im Morast zu versinken drohen und offensichtlich üble Gerüche aufsteigen. Man ahnt, dass es fortan nicht so gemächlich weitergehen wird. Die Musik beginnt. Laut und dröhnend, als käme sie von weit her und wollte genau hier und jetzt aufrütteln. Während Salonen sich fortan also der verstärkten und nicht immer ganz perfekt, aber wirkungsvoll donnernden Musik widmet und sie gemächlich entfaltet, ihre Ausbrüche betont und ihre zurückgenommenen Passagen zelebriert, entfaltet sich auf der Bühne nach und nach ein Geschehen, das die Zuschauer in den Bann zieht.

Foto kommt später

Die ersten, die offenbar zu Hilfe gerufen wurden, sehen eher wie Wissenschaftler aus. Dazu kommen immer mehr weitere Helfer, legen ihre weißen Schutzanzüge, die blauen Handschuhe und den Mundschutz an und beginnen zunächst mit bloßen Händen zu buddeln, bis eine erste Hand sichtbar wird. Dann der Arm. Schließlich ein ganzer Körper. Offensichtlich ist man auf eine verscharrte Leiche gestoßen. Doch es werden immer mehr. Die Helfer brauchen und bekommen Verstärkung. Die einen breiten die weißen Leichensäcke aus, die anderen bergen - zuerst immer zu zweit, dann auch schon mal allein - die so Geborgenen, an denen die vermoderten Kleidungsstücke noch haften. Irgendwann gibt man es als Zuschauer auf, mitzuzählen. Schließlich kommen drei weiße UNHCR Transporter auf dieses Leichenfeld gefahren. Einer von ihnen schafft es nur mit Anlauf.

Es ist immer der gleiche Vorgang: ein Körperteil finden, den ganzen Körper bzw. das Skelett freilegen und dann den so geborenen Toten, möglichst mit Respekt, auf den Leichensäcken platzieren. Mehr als den Versuch einer Identifikation dieser offensichtlich von wem auch immer Ermordeten und Verscharrten ist an Auferstehung nicht zu haben. Das ist die deprimierende Botschaft, die Castellucci in einer sich schier endlos wirkenden Wiederholung des immer gleichen zu bieten hat und die sich einbrennt. Trotz oder gerade wegen der Musik, die dazu den Raum erfüllt. Eine Steigerung gibt es gleichwohl, als Kinder- und Babyleichen gefunden und zu mehreren in einer separaten Kiste gebettet werden. Und dann noch einmal, als hinten unter einer verschütteten Plane ein Massengrab mit eng aneinander geschmiegten Körpern auftaucht. Hier halten sogar die Helfer für einen Moment schockiert inne.


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Als die katalogisierten Leichensäcke in den UNHCR-Transportern verstaut sind und das Team seine Arbeit erschöpft beendet hat, bleibt eine der Helferinnen zurück und gräbt weiter. Es ist berührend zu sehen, wie sie verzweifelt versucht, ja niemanden zu übersehen und damit zu vergessen. Sie wird zur personifizierten Fassungslosigkeit über das, was hier geschehen ist. Bis jemand sie mit sanfter Gewalt vom Weitermachen abhält und tröstend umarmt.

Das Nachwort gehört dem Orchester, den ebenfalls im Graben platzierten machtvollen Chören und den Stimmen von Sopranistin Golda Schultz und der besonders berührenden Altistin Marianne Crebassa. Auf dem Totenfeld beginnt dazu ein großer sanfter Regen. So als ob der Himmel weinen würde.


FAZIT

Castellucci ist eine großartig berührende, theatrale Installation gelungen. Wer dabei war, wird Mahlers zweite Symphonie fortan mit diesen Bildern verbinden.






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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Esa-Pekka Salonen

Inszenierung
Romeo Castellucci

Chor
Roberto Balistreri

Dramaturgie
Piersandra di Matteo



Choeur de l' Orchestre de Paris

Jeune Choeur de Paris

Orchestre de Paris


Solisten

Sopran
Golda Schultz

Alt
Marianne Crebassa


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