Die blutrünstigen Sibyllen (vokal beeindruckend), die das Ende herbeiskandieren und Kinder morden. Auch Judiths?
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Am Anfang war also das Nichts. Es herrscht bei der ersten Premiere der Salzburger Festspiele die totale Bühnendüsternis. In der Felsenreitschule wird sie nur von unschuldigen Schreien eines leidenden Säuglings durchbrochen. Er erlebt wohl seine letzten Momente. In der Dunkelheit ist jedenfalls plötzlich nur noch eine Frauenstimme zu hören, die dem Baby nachzuweinen scheint, das sie wohl – Ursache unbekannt – verloren hat. Ein Mysterium.

Wir sind hier also zwar mitten in Béla Bartóks Oper Herzog Blaubarts Burg. Doch weit und breit sind da kein Schloss und auch keine Türen, hinter denen die neugierige Judith Blaubarts Folterkammer, sein blutverschmiertes Kriegsgerät oder einen Raum voll glitzernder Edelsteine findet.

Regisseur Romeo Castellucci reduziert den meisterhaft zum Wesentlichen hin komponierten Einakter auf eine schmerzhafte Zweierbeziehung, die in ihrer nächtlichen Uneindeutigkeit ein kammerspielartiges Gegenstück zu Carl Orffs massenerweckendem De temporum fine comoedia bilden wird.

Bei Castellucci werden die Dialoge in Blaubart zu einer enigmatischen Reise in die Tiefenschluchten des Seelischen. Blaubart und Judith waten quasi durch die Gewässer des Unbewussten. Nur Feuersymbole wie Kreuze, brennende Stäbe, ein schwebender feuriger Kreis oder das Wort "Ich" umranken ein Paar, das sich dramatisch aneinander abkämpft und ein Trauma abarbeitet.

In dem schummrigen Psychodrama agiert Judith (Ausrine Stundyte) körperlich extrem und bis zur Selbstentäußerung.
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Verzweifelt besorgt

In diesem schummrigen Psychodrama, in dem Judith körperlich extrem und bis zur Selbstentäußerung agiert, herrscht ein emotionaler Krieg, der zur tendenziell sanften Musik einen Kontrast bildet. Judith verwickelt Blaubart regelrecht in Kampftänze. Die grandiose Aušrinė Stundytė (als Judith) ist die zwischen verzweifelter Obsorge um ein Baby (als Puppe im Arm) und erotischen Sehnsuchtsposen changierende Tragödin.

Mit ihrer rauen Timbrierung schafft Stundytė Unmittelbarkeit auch in entschleunigten Passagen. Und: Ihre Intensität zwischen Beziehungstraum und Trauma schließt an ihre impulsive Salzburger Elektra-Performance der letzten Jahre an. Mika Kares, der so durchdringend wie klar singt, zeigt Herzog Blaubart als zunächst Haltung wahrende unnahbare Existenz. Erst am Ende scheint er resignierend auseinanderzubrechen, während Judith in der Dunkelheit verschwindet.

Von dieser schmerzhaften Bewältigung einer Katastrophe geht es zu den Schmerzen des Jüngsten Gerichts samt Bitte um Vergebung: Carl Orffs Spiel vom Ende der Zeiten (Salzburger Uraufführung 1973 durch Dirigent Herbert von Karajan) ist ein imposanter Musikmonolith. Bleibt Blaubart nahe an tiefenpsychologisch inspirierten Stimmungen, bleibt Orff bei De temporum fine comoedia doch sehr einem Denken zugetan, das alle Lösungen von Konflikt und Leid an den christlichen Gott überantwortet.

Dass man diese beiden Werke zusammenbrachte, schien insofern nicht zwingend. Die Aufgabe ist allerdings bei Castellucci gut aufgehoben. Während Judith – wie erwähnt – in Blaubart am Ende verschwindet, taucht sie bei Orff als Opfer einer Steinigung auf. Zu erkennen war sie an jenem Glitzerkleid, das sie für Blaubart angelegt hatte.

Ein Paar dramatischer Abarbeitung: Aušrinė Stundytė und Mika Kares als Judith und Herzog Blaubart.
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Schuld und Erlösung

Bei Bildermeister Castellucci wird das ganze oratoriale Mysterientheater zur imposanten, Chöre bewegenden Abhandlung über Schuld, Bestrafung und Vergebung. Da sind die blutrünstigen Sibyllen (vokal beeindruckend), die das Ende herbeiskandieren und Kinder morden (auch Judiths?). Da sind die Anachoreten, die sich in repetitiven Handlungen ergehen und an einem Baumstamm Opferriten simulieren.

Da sind schließlich jene gesichtslosen Kreaturen, die das endgültige Ende erflehen und in einem Kreis – wie in einem Schlund – verschwinden. Romeo Castellucci bemüht sich, das Ganze gruselig aufzuladen, kollektive Skulpturen zu bilden und das Statische des Werks mit mal subtiler, dann wieder opulenter Aktion zu beleben.

Seine Ansinnen spiegelt die Musik, die gewissermaßen moderne Archaik ist. Sie verfügt über dezente suggestive Momente, die Dirigent Teodor Currentzis behutsam umsetzen lässt. Es dominiert allerdings der monotone, rhythmische Sprechgesang, dessen erratische Eigentümlichkeit beim MusicAeterna-Chor, dem Bachchor und dem Mahler-Jugendorchester ebenfalls voll zur Entfaltung kommt.

Die Anachoreten, frühchristliche Mönche, kämpfen gegen die Prophezeiungen des Weltuntergangs.
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Bei Blaubart hatte das formida-ble Mahler-Orchester die bisweilen repetitive, sanfte Gangart und das Magisch-Schummrige der betörenden Klangarchitektur edel umgesetzt. Das an Kulminationspunkten kurze, heftig Pochende bei Blaubart war aber schon eine markante "Aufwärmübung" für das Perkussive bei Orff, das oft maschinell wirkt und in den wilden Sprechchören seine humane Fortsetzung findet. Dieser rhythmisch stampfende Furor der Musik wird kontrastiert durch das versöhnliche Finale. Dem tanzend entrückenden Luzifer (Christian Reiner) wird vergeben, Blaubart und Judith tauchen wieder auf und bringen ihm jenen symbolträchtigen Apfel, der im Paradies angeblich so viel Unheil angerichtet hat. Schöne Schlusspointe, der Kreis zu Blaubart schloss sich.

Kleine Proteste vorab

Mit Regisseur Romeo Castellucci und Dirigent Teodor Currentzis haben wir in Salzburg ein Duo, das im Vorjahr schöne Diskussionen bezüglich des vor allem musikalischen Zugangs zu Mozart ausgelöst hat. Heuer schien jedoch abseits der Musik die Frage interessant, ob Currentzis und sein MusicAeterna-Chor wegen ihres auf der Sanktionsliste stehenden Sponsors für protestierende Seitenmusik sorgen würden.

Nun, es ging so: Draußen, in der Hofstallgasse, hob man ein paar Transparente gegen den Kapitalismus und eine "Kunst im Elfenbeinturm". Auch Pfiffe waren zu vernehmen. In der Felsenreitschule dann am Ende aber nur Begeisterung für eine besondere musikalische Umsetzung und eine fantasievolle Zusammenführung zweier Werke. (Ljubiša Tošić, 27.7.2022)