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Opern-Kritik: chasing waterfalls – Semperoper Dresden

Opera reloaded

(Dresden, 3.9.2022) Bei der Uraufführung des experimentellen Gemeinschaftsprojekts „chasing waterfalls“ hält erstmals eine Künstliche Intelligenz Einzug auf die Opernbühne.

vonAndré Sperber,

Gesichtserkennung am Handy, digitale Sprachassistenten, Fahrhilfen im Auto und Smart-Home-Geräte – tagtäglich umgibt sich der Mensch mit verschiedensten Formen Künstlicher Intelligenz (KI), meist ohne wirklich darüber nachzudenken. Aber warum auch nicht? Die Technologien entwickeln sich rasant, sind praktisch und erleichtern oft den mühseligen Alltag. Das ist erfreulich. Im Zusammenhang mit Kunst und Kultur allerdings wird KI dagegen eher skeptisch beäugt, von vielen sogar gänzlich abgelehnt und sorgt in jedem Fall für rege Diskussionen. Heißt unterm Strich: KI darf uns unser Essen kochen, darf uns nach Hause bringen und unsere Bankgeschäfte erledigen; aber ausdrucksvolle Bilder malen, erhellende Texte schreiben und bewegende Musik komponieren, das ist und bleibt doch Sache der einzigartigen, unkopierbaren und unimitierbaren Genialität des menschlichen Geistes. Oder?

Experimente sind da, um gewagt zu werden. Und ausgerechnet die sonst so traditionsbehaftete Semperoper Dresden hat nun mit der Uraufführung der sogenannten Artificial Intelligence Oper „chasing waterfalls“ künstlerisches Neuland betreten; ein Neuland, das sich angesichts des oft nicht minder traditionsaffinen Opernpublikums schnell als sehr dünnes Eis hätte erweisen können: KI singt als Akteur auf der Bühne, „improvisiert“ Text und Melodie passagenweise sogar live, das ist in der Tat verblüffend – doch kann, wie sich gezeigt hat, im angemessenen Rahmen durchaus funktionieren.

Szenenbild aus „chasing waterfalls“ an der Semperoper Dresden
Szenenbild aus „chasing waterfalls“ an der Semperoper Dresden

Die große Frage nach der Identität

So komplex die technischen Anforderungen zur Umsetzung des Stücks „chasing waterfalls“ sind, so simpel, so alltäglich ist dementgegen die Handlung gehalten. Es passiert im Grunde nicht viel – so, wie während der Zeit, die man im Netz verbringt, eigentlich auch nicht viel passiert. Und dennoch kommt keinerlei Langeweile auf: Eine Frau versucht sich wie jeden Morgen via Gesichtserkennung in Ihren Rechner einzuloggen, doch der Zugriff wird ihr verwehrt – die KI erkennt sie nicht als Mensch an: „Sie sind nicht Sie selbst.“ Es beginnt ein Ringen um die Frage nach Identität, im realen Leben wie im Netz und die Zweifelhaftigkeit, wer dabei eigentlich über wen bestimmt.

Doch es ist weniger die erzählte Geschichte, von der dieses Werk lebt. Vielmehr ist es die stark übergreifende Atmosphäre und die stilisierte Darstellung verschiedener Szenarien, mit denen man täglich in der digitalen Welt und in sozialen Netzwerken konfrontiert ist. Das Personenspiel von Regisseur Sven Sören Beyer legt den Fokus daher mehr auf Zeichnung starker statischer Bilder. Ein digitaler Drogentrip. Eindrucksvoll visuell unterstützt von den durchweg vielschichtigen Lichtspielereien und aufwändigen Projektionen (Licht: Henning Schletter, Visuals: Ployz, Studio Eigengrau & Frieder Weiss), die das Publikum direkt in die düster-kalten, sterilen Sphären der digitalen Welt hineinsaugen – und das quasi im wahrsten Sinne des Wortes, wurden doch als besonderer Clou zwischenzeitlich einige Zuschauerköpfe als 3D-Scans mit ins Bühnenbild integriert.

Reales Ich vs. virtuelle Ichs

Eir Inderhaug führt den Kampf um die eigene Existenz bei ihrem Dresdner Hausdebüt mit ihrem präzisen Glasfaser-Sopran gleich in einer Doppelrolle: als reales und als virtuelles Ich. Auch dem Algorithmus, der hier von der KI „verkörpert“ wird und immer wieder auf gespenstische Weise quasi gottesgleich aus dem Off ertönt, hat die Norwegerin ihre Stimme geliehen. Monatelanges Training und eine komplizierte Anlernphase lassen den Computergesang vom Klang her schon einigermaßen nah an das menschliche Vorbild herankommen; noch lassen sich die beiden aber gut voneinander unterscheiden (zum Glück, muss man wohl an dieser Stelle sagen). Auch beim Libretto hat sich Autorin Christiane Neudecker phasenweise von Künstlicher Intelligenz inspirieren bzw. unterstützen lassen. Die geistigen Ergüsse der Maschine halten sich allerdings auch hier in überschaubaren Grenzen.

Instrumentaler als erwartet

Neben der Protagonistin sind es insgesamt fünf weitere (von Menschen gespielte) Figuren, die sich auf dem Bühnenbild von Regisseur Beyer und Pedro Richter, das im Kern schlicht aus einer hohen Stufenkonstruktion und jeder Menge fließendem Wasser (Stichwort: „chasing waterfalls“) besteht, bewegen. Die Charaktere, von Pedro Richter in cybergraue Kleidung eingehüllt, sind die personifizierten „digital twins“ der Hauptfigur. Selbstgeschaffene digitale Abbilder der eigenen Persönlichkeit also, darunter die Sehnsucht nach Erfolg (Sebastian Wartig), der nagende Zweifel (Simeon Esper), die Verheißung des Glücks (Julia Mintzer), der trügerische Schein (Jessica Harper) und das spielerisch forschende Kind (Tania Lorenzo); stimmlich allesamt der anspruchsvollen Partitur gewachsen.

Die Musik, eine Gemeinschaftsarbeit des Hongkonger Komponisten Angus Lee, des Künstlerkollektivs phase7 performing.arts Berlin sowie des Studios für Sonic Experiences kling klang klong, untermalt die abstrakten Vorgänge auf der Bühne angemessen mit perkussiven, teils impulsiven, teils dunkel-rumorigen Klangräumen. Zwar ist auch viel Elektronisches mit Sounds und Beats involviert, insgesamt ist der instrumentale Anteil jedoch höher, als man bei diesem Genre zunächst vielleicht erwartet hätte. Angus Lee selbst leitet die neun Mitglieder der Sächsischen Staatskapelle Dresden im Graben an.

Glaubwürdiges experimentelles Musiktheater

Das Experiment „chasing waterfalls“ ist letztlich in vielerlei Hinsicht durchaus geglückt. Zum einen auf der inhaltlichen Ebene, weil es unserer Gesellschaft einen Spiegel vorhält und wichtige Fragen aufwirft: Wer sind wir eigentlich? Wer sind wir im realen Leben und wer sind wir in der virtuellen Welt? Und wer bestimmt über wen? Zum anderen auf der technischen Ebene, weil es mit dem Einsatz der KI neuartige Elemente einbezieht, Möglichkeiten und Grenzen innovativer Technologie aufzeigt und dabei den Diskurs um das Thema Kunst und Künstliche Intelligenz weiter vorantreibt. Außerdem auf der künstlerischen Ebene, weil es als experimentelles Musiktheater glaubwürdig funktioniert. Gerade bei der künstlerischen Auseinandersetzung mit digitalen Themen, besteht stets die große Gefahr in große Klischeefallen zu tappen, was hier jedoch zu größten Teil geschickt vermieden wird. Solche Projekte können durchaus dazu beitragen, dass auch die Oper neue Wege gehen kann, gerade um im digitalen Zeitalter auf lange Sicht nicht abgehängt zu werden.

Semperoper Dresden
Lee/Phase 7/kling klang klong: chasing waterfalls

Angus Lee (Leitung), Sven Sören Beyer (Regie), Sven Sören Beyer, Johann Casimir Eule & Christiane Neudecker (Idee & Konzept), Sven Sören Beyer & Pedro Richter (Bühne), Pedro Richter (Kostüme), Henning Schletter (Licht), Ployz, Studio Eigengrau & Frieder Weiss (Visuals), kling klang klong (Komposition, Raumklang & Sound Design), Eir Inderhaug, Tania Lorenzo, Jessica Harper, Sebastian Wartig, Simeon Esper, Julia Mintzer, Artificial Intelligence, Sächsische Staatskapelle Dresden

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