Eröffnet werden hätte die Saison 2022/23 an der Wiener Staatsoper eigentlich mit La Juive, nach gleich zwei krankheitsbedingten Sängerabsagen trat im Haus am Ring allerdings Plan B in Kraft. Der Spielplan wurde kurzerhand geändert und Giacomo Puccinis La bohème durfte passend zu den ersten Lebkuchen im Supermarkt schon im September Weihnachtsstimmung verbreiten. Während die erste Vorstellung der Serie noch von viel (Medien-)Rummel rund um Anna Netrebko begleitet wurde, war an diesem zweiten Abend bereits wieder die übliche Wiener Opernroutine eingekehrt. Und mit Eleonora Buratto, die bei dieser Vorstellung als Mimì auf der Bühne stand, sollte es ein toller Opernabend werden.

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Vittorio Grigolo (Rodolfo) und Eleonora Buratto (Mimì)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Buratto ist eine exzellente Mimì, sie gestaltete die Figur stimmlich berührend sowie frei von Manierismen und verlieh dem Charakter mit eleganter Zurückhaltung eine gehörige Portion Grandezza. Das Timbre ihres Soprans schimmerte silbern und verströmte bereits im ersten Akt einen leisen Hauch von Todesahnung, die Mittellage der Stimme ist herrlich rund und flexibel genug, um auch die längsten Legatobögen elegant auszugestalten. Im vierten Akt nahm sie sich bewusst zurück und erzielte mit sanften Piani und konstant fahler werdenden Stimmfarben in den letzten Phrasen vor Mimìs Tod großen Effekt. Noble Zurückhaltung ist bekanntlich nicht die Lieblingsbeschäftigung von Vittorio Grigolo und so fegte sein Rodolfo in Orkanstärke über die Bühne und ließ kein Klischee aus. Da werden Arme in die Luft gestreckt und schmachtende Blicke aufgesetzt, die einem hungrigen Labrador Konkurrenz machen würden – allerdings wirkt das Ganze so erstaunlich authentisch, dass man ihm sowohl die euphorische Verliebtheit als auch die pure Verzweiflung tatsächlich abnimmt. Stimmlich schöpft Grigolo dabei aus dem Vollen, sein Tenor erklimmt mit zartschmelzendem Timbre mühelos strahlende Höhen, verfügt über genug Power für jedes Fortissimo und bleibt auch im Piano ebenmäßig. Und so unterschiedlich Buratto und Grigolo ihre Rollen auch anlegten, die Chemie stimmte sowohl in der Darstellung als auch stimmlich; häufig fühlte man sich an diesem Abend dank geballter Italianità der beiden in die goldenen Zeiten der italienischen Oper zurückversetzt.

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Nina Minasyan (Musetta) und George Petean (Marcello)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Als Musetta agierte Nina Minasyan schauspielerisch so brav, dass die Figur zur Abwechslung mal schon im zweiten Akt nicht flatterhaft und kapriziert, sondern schlichtweg sympathisch wirkte. Stimmlich überzeugte sie jedoch auf ganzer Linie, denn ihr Sopran ist hell timbriert und sauber geführt, verfügt über die richtige Portion an koketten Farben für die Partie und die Höhe blüht warm auf, ohne scharf zu werden. Eine Luxusbesetzung war George Petean als Marcello, die Stimme strömte in warmen Farben nuanciert durch die Partie und verlieh der Figur dabei einen im besten Sinne teddybärhaften Charakter, sodass es nicht verwunderte, dass sowohl Mimì als auch Rodolfo bei ihm Rat und Trost suchen. Komplettiert wurde die Runde der Bohemiens in den tiefen Stimmlagen durch Martin Häßler, der in der Rolle des Schaunard Spielfreude mit elegant strömenden Gesangslinien verband und Günther Groissböck, der sich als Colline voll Emphase von seinem Mantel verabschiedete. Die Inszenierung von Franco Zeffirelli leistet auch bei ihrer 449. Aufführung verlässliche Dienste und hübsche Bebilderung; ein bisschen frische Farbe würde das Bühnenbild aber mittlerweile vertragen – besonders das Café Momus hat schon strahlendere Zeiten erlebt.

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Vittorio Grigolo (Rodolfo) und Eleonora Buratto (Mimì)
© Michael Pöhn

Unter der Leitung von Bertrand de Billy lieferte das Staatsopernorchester an diesem Abend grundsoliden Puccini-Klang, dem allerdings der Schmachtfaktor fehlte; ein bisschen mehr Pathos und Schmelz hätten der Vorstellung durchaus gut getan. Die Klasse des Orchesters zeigte sich dafür jedoch an einer anderen Front: wie jedes einzelne Rubato von Grigolo (und derer gab es viele) aus dem Graben abgefedert wurde, ohne dass Abstimmung zwischen Bühne und Orchester verloren ging, war meisterhaft.

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