Calixto Bieitos Inszenierung von Georges Bizets Carmen kann man mittlerweile getrost als modernen Klassiker bezeichnen, seit ihrer Premiere 2004 war sie in unzähligen Opernhäusern rund um die Welt zu sehen und regt eigentlich niemanden mehr auf. Wien ist aber bekanntlich anders und so wird in der Pause lautstark über die Regie geschimpft und ein einzelner Buhrufer versuchte zwei Mal an diesem Abend, seinem Unmut auch während der Vorstellung Ausdruck zu verleihen. Worüber sich Teile des Publikums so echauffieren bleibt (zumindest mir) unklar, denn die Inszenierung ist ja eigentlich eine ganz klassische Interpretation, die trotz moderner Optik keine radikale Neudeutung vornimmt. Der Regisseur verzichtet konsequent auf verklärten Sevilla-Kitsch und zeigt stattdessen ebenso zeit- wie schonungslos die harte Realität in einem Milieu, das man heute wohl als sozialen Brennpunkt bezeichnen würde. Die auf der Bühne gezeigte Brutalität ist dabei natürlich nicht immer leicht verdaulich, sorgt aber für packendes Musiktheater.

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Elīna Garanča (Carmen) und Piotr Beczała (Don José)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Elīna Garanča hat in dieser Inszenierung bereits vor einigen Jahren in Paris gesungen und hatte nun auch in Wien sichtlich Spaß daran, ihre wilde Seite auszuleben und sich darstellerisch voll und ganz in den Abend zu werfen. Scheinbar mühelos sang sie die Partie zum Niederknien gut; so ließ sie die Stimme mal verführerisch schnurren, um sie dann wieder üppig aufwallen zu lassen und bewies, dass erfolgreiche Verführung definitiv auch über die Ohren erfolgen kann. Dass ihr Mezzo in den letzten Jahren sukzessive an Tiefe und Volumen gewonnen hat, verleiht ihrer Interpretation der Carmen überdies neue Klangfarben und dem Charakter zusätzliche Facetten. So etwa im Kartentrio, als die Schicksalsschwere eindrucksvoll in der vokalen Gestaltung mitschwang. Am vokalen Zenit ist momentan auch zweifellos Piotr Beczała, dessen Stimme dank kluger Karriereplanung und lupenreiner Technik so gesund und frisch klingt, dass es eine Freude ist. Von gefühlvollen Piani im Duett mit Micaëla über in sich gekehrte Verzweiflung in der Blumenarie bis hin zu dramatischer Attacke in den Eifersuchtsausbrüchen verdeutlichte er den labilen Charakter des Don José nuanciert und farbenreich. Nun ist Beczała nicht unbedingt dafür bekannt, darstellerisch allzu sehr aus sich herauszugehen, an diesem Abend schien er aber von Garanča mitgerissen worden zu sein, sodass er auch mit jedem Akt intensiver spielte und sein Don José vor allem in der finalen Konfrontation mit Carmen auf der leeren Bühne beinahe beängstigend überzeugend wirkte.

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Elīna Garanča (Carmen)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Slávka Zámečníková begann im ersten Akt stark und stattete die Micaëla mit strahlend timbrierten Sopran und viel Gefühl aus. Ihre Arie verschenkte sie allerdings, denn hier zeigte sich, dass eine schöne Stimme mit durchaus satter Mittellage nicht zwangsläufig sofort ein lyrischer Sopran ist. Sie musste an einigen Stellen forcieren, was wiederum zu Lasten des Ausdrucks und der Klangfarben geschah. Es ist selten geworden, einen Escamillo zu hören, der angesichts der Tessitur der Partie nicht an seine Grenzen stößt, aber Roberto Tagliavini bringt alles mit, was es für die Rolle braucht: eine tragfähige Tiefe, eine weich strömende Höhe und ein Timbre, das gleichermaßen dunkel und samtig ist, um den Stierkämpfer gleichzeitig sexy und abgeklärt klingen zu lassen. Angesichts der stimmlichen Leistung sah man es ihm dann auch gerne nach, dass sich die Darstellung eher auf vermeintlich bedeutungsvolles Herumstehen beschränkte.

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Roberto Tagliavini (Escamillo)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Mehr Spielfreude zeigten da schon die Sängerinnen und Sänger der kleineren Rollen, so überzeugten Maria Nazarova und Isabel Signoret als Frasquita respektive Mercédès schauspielerisch auf ganzer Linie. Während Signoret auch vokal einige Glanzpunkte setzen konnte, klang Nazarova jedoch vor allem schrill. Hingegen konnten zwei aus dem Opernstudio hervorgegangen Neo-Ensemblemitglieder klangschön auf sich aufmerksam machen: Michael Arivony ließ als Dancaïre einen schön timbrierten Bariton hören und Ilja Kazakov gab mit ehrfurchtgebietendem Bass den Zuniga.

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Ilja Kazakov (Zuniga), Elīna Garanča (Carmen) und Piotr Beczała (Don José)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Der Chor der Wiener Staatsoper sowie die Kinder der Opernschule  steckten vollen (Körper-)Einsatz in ihre Rollen und agierten vokal auf hohem Niveau, auch wenn es ihnen aus dem Graben nicht immer ganz leicht gemacht wurde. Dirigent Yves Abel schien schon bei der Ouvertüre einen Geschwindigkeitsrekord aufstellen zu wollen und hatte es auch sonst ziemlich eilig; die forschen Tempi wurden an diesem Abend zwar niemandem zum Verhängnis, aber sowohl der Chor als auch die Solisten schienen dann und wann – beispielsweise in der Schmugglerszene des zweiten Akts – durchaus Mühe zu haben, vor lauter Expresstempo nicht über den Text zu stolpern. Das Staatsopernorchester schillerte in den feurigen Passagen zwar in sommerlichen Farben und bestach mit Energie, wirkte in den lyrischen Momenten aber erstaunlich uninspiriert. So plätscherte etwa das Zwischenspiel nur ganz nett dahin und auch die Einleitung zur Arie der Micaëla wirkte mehr wie eine unemotional abgespulte Pflichtübung der Hörner. Erst als die Handlung gegen Ende des dritten Akts wieder Fahrt aufnahm, kehrten auch im Orchester die zuvor schon demonstrierte Farbvielfalt und das Temperament zurück.

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