Der „Ring“ an der Berliner Staatsoper :
Wie Wissenschaft den Mythos tötet

Von Clemens Haustein
Lesezeit: 4 Min.
Gewalttätig sind die Zeiten nicht nur in der wirklichen Welt: Szene aus der Berliner „Rheingold“-Inszenierung.
An der Berliner Staatsoper hat mit „Rheingold“ und „Walküre“ der neue „Ring“ begonnen. Dimitri Tcherniakov inszeniert, Christian Thielemann dirigiert - und wird gefeiert.

Es sollte das große, vorgezogene Geschenk für Daniel Barenboim werden, der im November achtzig Jahre alt wird: noch einmal eine Neuinszenierung des „Ring des Nibelungen“, über die Bühne gebracht innerhalb einer Woche, so wie man das eigentlich nur in Bayreuth macht. Barenboim geht es gesundheitlich nicht gut. Noch vor den Orchesterproben war klar, dass er die Aufführungen nicht würde dirigieren können, er bat Christian Thielemann, für ihn zu übernehmen (einen von drei Aufführungszyklen wird Thomas Guggeis leiten). Erst im Juni war Thielemann bei der Berliner Staatskapelle für den gestürzten Herbert Blomstedt eingesprungen, das war sein Debüt vor dem Ensemble.

Nach den ersten beiden Teilen des „Rings“ wurde Thielemann per Akklamation des Publikums und jener Musiker der Staatskapelle, die im Orchestergraben saßen, zum Nachfolgekandi­daten Nummer eins für Daniel Barenboim ernannt. Der Jubel für den Wagner-Spezialisten war an beiden Abenden gewaltig, und unerhört war tatsächlich, was da aus dem tief abgesenkten Graben zu hören war.

Als hauchzartes Gewebe erscheint Richard Wagners Musik hier, zuweilen ist nur noch die Spur eines Duftes zu erahnen. Im Vorfeld der Premieren hatte der Dirigent darauf hingewiesen, wie viele Ähnlichkeiten er in der Musik Wagners erkenne zu jener Felix Mendelssohn Bartholdys, der von Wagner als Jude übel geschmäht wurde. Man müsse Wagner eigentlich spielen wie Mendelssohn, forderte Thielemann: leicht, klar, mit einem Grundzug der Heiterkeit.

Der „Ring“ als Wotans große Versuchsanordnung

Hier ist es nun zu hören mit allen erfreulichen Auswirkungen für die Sänger: Jedes Wort ist zu verstehen, weite Teile von „Rheingold“ und „Walküre“ fließen im unangestrengten Parlando dahin. Man meint in einem Theaterstück zu sitzen, das getragen wird von einem Klangstrom, der sich eigentlich selbst vergessen machen möchte. So hat sich Wagner wohl sein „unsichtbares Orchester“ gedacht.

Wie Säulen ragen daraus musikalische Einzelereignisse hervor, denen Thielemann, mit sicherem Sinn für die Disposition, charakteristische Haptik verleiht: Im „Rheingold“ etwa der Auftritt der beiden Riesen, begleitet vom breit walzenden Geknatter der tiefen Blechbläser. Das ist an Drastik kaum zu überbieten und bleibt doch im strengen ästhetischen Rahmen dieser Aufführung. Auch Wotans Zorn über Brünnhilde tritt gewaltig hervor im dritten Akt der „Walküre“, wohingegen sein Abschied zum tief introvertierten Stück gedehnt wird. Es sind solche Markierungen, die es dem Zuhörer einfach machen, einen gliedernden Überblick über das beunruhigend riesige Werk zu erhalten.

Thielemanns Dirigieren der Beherrschung und der Beherrschtheit steht im Einklang mit dem Bühnengeschehen, wie es der Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov in Gang setzt. Auch hier herrschen Klarheit und Aufgeräumtheit. Von Briefäußerungen Wagners angeregt, in denen dieser von seinen Werken als „Experimenten“ spricht, begreift Tcherniakov den ganzen „Ring“ als eine einzige, riesige Versuchsanordnung, beaufsichtigt von Wotan als Leiter einer Forschungsanstalt, deren Vielzahl von Laboren, Besprechungsräumen und Hörsälen in etwa den schwer überschaubaren Verästelungen der Wagner’schen Partitur entspricht. Untersucht wird in diesem Institut (es befindet sich offenbar in einem repressiven Staat mit massiver Polizeigewalt) menschliches Verhalten in Extremsituationen.

Alberich der Proband verwüstet das Labor

In einem „Stress-Labor“ sitzt zu Beginn des „Rheingoldes“ Alberich angeschnallt, mit Elektroden verkabelt, mit Infusionsschläuchen versehen auf dem Probandenstuhl und wird Provokationen dreier Assistentinnen – der Rheintöchter – ausgesetzt. Über eine Cyberbrille bekommt er die entsprechenden Bilder übermittelt, an der Fensterscheibe des Labors versucht er einen vorgespiegelten Felsen emporzuklettern.

Hinter einem Beobachtungsfenster folgen Wotan und Kollegen dem Verlauf des Experimentes, das bald außer Kontrolle gerät: Nach seiner Entscheidung für die Macht, die das Gold verspricht, und gegen die Liebe, reißt Alberich die Verkabelung ab, verwüstet das Labor und rauscht ab. Wohin? Zwei Etagen tiefer in den Keller des Instituts, wo eine Testgruppe sitzt wie Gefangene eines Arbeitslagers: eine „Untersuchung menschlicher Verhaltensmodelle“.

Pikiert über die Zumutung, wird Wotan später in dieses seelische Nibelheim seines Instituts hinunterfahren, gemeinsam mit Loge weiß er sich nur mit aufgekratztem Zynismus durch die Situation zu retten. Götter, Zwerge, Riesen und Gold: all das gibt es bei Tcherniakov nicht.

Bleibt die Frage, ob Wagner ohne Mythos noch Wagner ist

Im Experiment, das Wotan entglitt und das er nun verzweifelt wieder in geordnete Bahnen lenken möchte, hat man es nur mehr mit Situationen zwischenmenschlicher Beziehungen zu tun – deren Verlauf durchs Beobachtungsfenster begutachtet wird wie auch das Aufeinandertreffen Siegmunds und Sieglindes im ersten Akt der „Walküre“. Es ist der Tod des Mythos durch die Wissenschaft, den Tcherniakov hier vorführt mit allen Vor- und Nachteilen, die daraus erwachsen. Sicher ist man nun vor allen Peinlichkeiten der Wagner’schen Sagenwelt; gleichzeitig verkommen die mythologischen Erzählungen in der Handlung zum Gerede, das völlig verzichtbar wäre.

Und man bezahlt mit einem gewaltigen Verlust an Poesie und Wärme. Dass im Rheingold das reinigende Gewitter ausfällt und Donner und Froh stattdessen Funken aus den Händen sprühen und Regenbogentücher wallen lassen, das lässt sich noch als komisch anzusehender Transfer verstehen: Hier wird mit billigen Zaubertricks das belastete Betriebsklima der Forschungsanstalt aufgeheitert. Wenn der Brünnhilde-Felsen aus einem Stuhlkreis besteht, in dessen Mitte sich die Bestrafte auf einen Stuhl stellt, um Flugbewegungen anzudeuten, ist das aber doch von erstaunlicher Dürftigkeit.

Für seinen gestisch detailliert ausgestalteten Wurf hat Tcherniakov allerdings stimmlich wie schauspielerisch hoch veranlagte Darsteller zur Hand: Michael Volles Wotan vereint Infantilität mit Mannesschwere, seine liedhafte Leichtigkeit ist ein Ereignis; Rolando Villazón spielt im „Rheingold“ einen fabelhaften Loge, der den Betrachter in arge Bedrängnis bringt: In seiner Verbindlichkeit kann man ihm den Zynismus kaum übel nehmen. Villazóns mediterrane Stimmfarbe weist Loge als jenen Sonderling aus, als den ihn Wagner auch dachte: Dieses Experiment ist geglückt.

Johannes Martin Kränzles Alberich ist voll existenzieller Nöte, Vida Miknevičiūtė als Sieglinde und eingesprungene Freia im „Rheingold“ ist eine Wucht: mit einer durchschneidenden und doch warmen Stimme. Der Tenor Robert Watson als Siegmund ist ihr ein samten tönender Widerpart. Anja Kampes Brünnhilde ist von bewährter Präsenz, Claudia Mahnke verleiht der Fricka unwiderstehliche Hartnäckigkeit, Mika Kares singt einen Hunding der lauernden Aggressivität. Bleibt die Frage, ob Wagner ohne Mythos noch Wagner ist. Die beiden noch ausstehenden Ring-Teile werden bei der Beantwortung helfen.