Ein Mädchen gerät in Nöte des Erwachsenwerdens: Die tanzende Jolanthe (Milo Schmidt) plagen Ängste, ihre Märchenfreundinnen wirken gefährlich.

Foto: Ashley Taylor

Ohne gleich einen Megatrend im Kosmos des Musiktheaters ausrufen zu wollen: Aber es scheint, als kämen ungewöhnliche Werkkopplungen ein bisschen in Mode. Natürlich gibt es Vorbilder. Der Verismo hat die Einakter Cavalleria rusticana und Bajazzo zu Geschwistern des Opernalltags zusammenwachsen lassen. Auch gab es spektakuläre Seltsamkeiten wie etwa den Ring in 24 Stunden in Erl, als Gustav Kuhn alleinherrschender Intendant war.

Dass bei den Salzburger Festspielen kürzlich Bartóks Herzog Blaubarts Burg und Orffs De temporum fine comoedia aneinandergebunden wurden, war allerdings eine gestalterische Aktion, die überraschte.

Und dass kürzlich eine Oper von Gustav Mahler an der Staatsoper erschien, obwohl der Symphoniker keine Oper geschrieben hat, war ebenfalls eine Werkkonstruktion, die Indizien lieferte: Es tat sich Neues, schließlich wurde da mutmaßlich Unvereinbares zusammengebracht, das Klagende Lied und die Kindertotenlieder.

Zeitlicher Überdehnung

Wegen Ideen aus Salzburg und Wien, wie gesagt, wird nicht gleich eine ästhetische Revolution stattfinden. Und natürlich hat das Originelle Grenzen. Rein aus Gründen zeitlicher Überdehnung wird niemand die Geduld überstrapazieren und Strauss’ Rosenkavalier dessen Salome folgen lassen. Von inhaltlichen Gründen nicht zu sprechen.

Und doch, nun sind wir endlich bei der Volksoper, scheint da etwas im Entstehen begriffen. Schließlich hat das Haus am Gürtel am Sonntag unter dem Titel Jolanthe und der Nussknacker eine Oper und ein Ballett ineinander verwoben.

Lotte de Beer, Neointendantin des Hauses und Regisseurin, hat Tschaikowskis einaktige Oper Jolanthe und sein Nussknacker-Ballett (1892 gemeinsam uraufgeführt) mit dem neuen Musikdirektor Omer Meir Wellber und Choreograf Andrey Kaydanovskiy zu einem neuen Stück übers Erwachsenwerden geformt.

Atmosphärisch reizvoll

Das hat schon mal musikalisch-interpretatorisch einiges zu bieten: Der Dirigent lässt das Volksopernorchester herzhaft zulangen; das hat Drive, Ruppigkeit und gleichzeitig (zumeist) eine Ausgewogenheit des kollektiven Klanges. So etwas hat das Haus schon lange nicht vernommen. Dramaturgisch und atmosphärisch reizvoll auch, wie sich zu Beginn etwa Ballett- und Opernmusik kurz überlagern, wobei der Wechsel von Musiktheater zu Tanz in Summe organisch gestaltet wird.

Der Grundcharakter des neuen Stücks: Eine nüchterne Opernrealität des blinden Mädchens Jolanthe, welche Olesya Golovneva vokal passabel bis angestrengt bewältigt, kontrastiert mit einer vertanzten Märchenwelt, die Jolanthes inneres Auge sieht. All die lieblich tanzenden Torten, Blumen und Zinnsoldaten, all das Nussknacker-Wunderland (Kostüme: Jorine van Beek) setzt Choreograf Kaydanovskiy aber auch in den Dienst einer Coming-of-Age-Geschichte.

Etwas gar reduziert

Wie Jolanthe langsam ihre Kindlichkeit abstreift, auch durch das Erscheinen des verliebten Vaudemont (klangschön: Georgy Vasiliev), verdüstert sich auch ihre innere Fantasiewelt. Die Choreografie zeigt es: Ein ängstliches Mädchen gerät da in dramatische Situationen, ein siebenköpfiger Mäusekönig erscheint. Die Märchenwelt wird gruselig eingefärbt, wenn Jolanthes Kindsein langsam durch die Realität erhellt wird.

De Beer reduziert die Opernseite der neuen Geschichte optisch auf Stühle und Polster. Dieser Minimalismus erscheint plausibel als Kontrast zur Tanzsphäre. Dennoch: Die Personenführung im Opernbereich war leider zu nahe an jenem Herumstehtheater, das bei Unterinszenierung passiert.

Es erfassten die gestischen Klischees auch die guten Sänger, also Stefan Cerny (René), Andrei Bondarenko (Robert) und Szymon Komasa (Ibn Hakia). Applaus von Groß und Klein. (Ljubisa Tošic, 11.10.2022)