Nein, eine Überraschung war es nicht. Aber eine Bestätigung der helvetisch-verschmunzelten Art. Seit Anfang seiner Theater- wie auch seiner Musiktheaterkarriere, die 1994 mit seiner ersten richtigen Opernregie zu Debussys „Pelléas et Mélisande“ in Frankfurt anhob, - inszeniert Christoph Marthaler eigentlich immer wieder gern Webers „Freischütz“.
Die Vereinsmeierei, die herabfallenden Bilder, die Vereinsamung und Isolation mittelalter Menschen, die irgendwie und irgendwann den Probeschuss verpasst haben, untermalt vom gemeinsamen Singen populärer, hier verfremdeter Volkslieder, das Totschießen, das Misstrauen in Heilversprechungen jeglicher, vor allem christlicher Art, das zieht sich schließlich wie ein stilistischer Cantus firmus durch fast alle Marthaler-Arbeiten. Und solches fand nun am Ursprungsort, am Theater Basel, wo Marthaler nach ersten Zürcher Off-Anfängen 1988 entdeckt wurde, endlich seine Weber-Werkerfüllung. Natürlich auf Marthalerisch.
Seltsam, die bemerkenswerteren „Freischütz“-Variationen (Rohrkrepierer inklusive) wurden um das 200er-Jubiläum anlässlich der Berliner Uraufführung 1821 von Nichtganz-Deutschen abgefeuert. Vom Russen Dmitri Tcherniakov in München und Amsterdam, vom Berliner türkischer Abstammung Ersan Mondtag in Kassel und jetzt eben vom Schweizer Christoph Marthaler in Basel.
Und wieder lernen wir: Weil der Schweizer dem Deutschen ähnlich ist, aber eben doch gemütsmäßig ein wenig anders tickt, entstellt diese leichte Verschiebung den am Schweizer Wesen genesenden „Freischütz“ zur schönsten Kenntlichkeit.
Natürlich marthalert es auch hier, aber nur sanft. Marthaler kann halt nicht heraus aus den Endlosschleifen seiner Manien und Ticks. Die haben seine Opernarbeiten in den vergangenen Jahren zunehmend plump, vorhersehbar und anmaßend gemacht. Beim „Freischütz“ aber findet das alles passgenau treffend seinen Weg ins Schwarze.
Ein liebevoller Weber ist zu hören
Das beginnt schon mit der Ouvertüre, die der mitdenkende Titus Engel am Pult mitdenkend ganz leise, trotzdem insistierend spannungsvoll intonieren lässt. Im auf- und niederfahrenden Graben, wo auch mal – als eine von mehreren Varianten an diesem vergnüglichen Abend – vom Jägerchor in den Biermaßkrug schaumgeblubbert wird. Dort sitzt das Baseler Kammerorchester mit originalen Instrumenten, klingt zurückhaltend, bisweilen rau, aber auch sehr schmiegsam, ein liebevoller Weber ist zu hören.
Aber nicht immer. Manches ist umgestellt, die bäuerliche Bühnenmusik, die Marthaler sehr liebt, wurde eigens neuorchestriert und bekommt mehr Raum. Der erste Teil endet mit einem fremden Volksjägerchor, der zweite Teil beginnt mit der Wolfschlucht, wo der Chor als falsches Orchester auf Anna Viebrocks kunstschäbiger Bühne sitzt und der mürrische Kaspar (Jochen Schmeckenbecher) lethargisch seine Freikugeln gießt.
Ihre cellobegleitete Arie von der sich verhüllende Wolke singt Agathe (kraftvoll und zerbrechlich zugleich: Nicole Chevalier) depressiv im Stuhl sitzend mit einer Geige schlaff im Arm. Sie hat längst jede Verbindung zum greinenden, frühvergreisten Max (hinreißender Verlierer: Rolf Romei) verloren. Auch das ältliche Ännchen (die wunderbar punktgenaue Rosemary Hardy) kann mit ihrem Solo-„Jungfernkranz“ am Klavier samt einsamem Horn die Stimmung nicht aufheitern.
Herrlich dann auch die Variationen über den Jägerchor von laut bärbeißig bis a capella aus der Ferne geflötet. Das ist Marthaler at his best, so wie er das trostlose Schützensextett (dazwischen auch sein Urschauspieler Ueli Jäggi als der brummelnde Jäger vom Schwarzwald) schon zu Anfang allein an den Tischen mit Maggi/Aromat-Sets im Vereinsheim vor der Bühne platziert hat.
Hinter dem Vorhang wartet der Chor als Liedertafel in Kittelschürze und beiger Spießerhose, vorne links gibt es die Damentoilette als Wohnküche, rechts in der Spindreihe steckt der ängstliche Max seinen Kopf in den Blechschrank. Und in der Mitte fahren als platte Schießstandfiguren immer Fuchs, Hase, Gemse und Wildsau ruckelnd vorbei. Aber keiner trifft sie.
Es fing an mit der Leere dieser Marthaler-Endlosschleifen, wo Worte und Töne ins Nichts fallen. Es endet natürlich in einem immer langsamer werdenden Finale, wo alle ihre Ticks am Boden zuckend austragen, als wäre ihnen jetzt furchtbar unwohl, weil Fürst Ottokar (Karl-Heinz Brandt) und der Eremit/Samiel (Jasin Rammal-Rykala) irgendwie die Schicksalsfäden zum obligatorisch guten Opernschluss entwirren wollen.
Dem verweigert sich natürlich Christoph Marthaler, der hier aber nichts zerschlägt, sondern nur anders aufräumt, mit schönster Kakophonie: Die Solisten singen die Apotheose-C-Dur, der Damenchor kräht seinen „Jungfernkranz“, die Herren noch einmal den Jägerchor. Und das Orchester spielt Wolfsschlucht-Dämonie.
So enden alle fürchterlich durcheinander und doch zusammen auf den Schlag. Bumm. Klappe zu, „Freischütz“ lebt. Luftig wie selten.