Jenůfa, diese merkwürdig unterhaltsame Oper über zwischenmenschliche Gräueltaten, darunter Körperverletzung und Kindsmord, steht nach über sechs Jahren wieder einmal auf dem Spielplan der Wiener Staatsoper – eine ausgezeichnete Idee, denn damit trifft das Haus gleich mehrere brandaktuelle Themen.

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Michael Laurenz (Štewa) und Asmik Grigorian (Jenůfa)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Zunächst wäre das Janáček-Revival auf den europäischen Bühnen zu nennen; insbesondere Berlin und Wien entwickeln sich diesbezüglich zu Hotspots, und Káťa Kabanová war der Höhepunkt der Salzburger Festspiele. Die kunstvolle, aber ungekünstelte Musik, die sich insbesondere durch eine treffsichere Charakterisierung seiner Protagonisten und treibende Rhythmik auszeichnet, ist auch ein guter Grund, Janáček häufiger auf den Spielplan zu setzen; ein weiterer ist sein ausgeprägter Sinn für das Drama – alles ist Prosa, alles ist durchkomponiert und zieht ein modernes Publikum in seinen Bann, auch wenn Jenůfa natürlich ein Kind ihrer Zeit, also des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist.

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David Butt Philip (Laca) und Asmik Grigorian (Jenůfa)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Übergriffe aller Art werden nicht nur unter #metoo im Internet diskutiert, sie sind ein großes Thema in Jenůfa und werden in diesem Werk in verschiedenen Konstellationen gezeigt: Es beginnt bei Jenůfas Schwängerung durch Števa (die auch bei gegenseitigem Einvernehmen im seinerzeitigen Kontext als Regelbruch zu deuten ist) und setzt sich fort, als ihr der eifersüchtige Laca die Wange zerschneidet. Paradoxerweise werden diese patriarchalen Handlungen in ihrer Perfidie von der Matriarchin in diesem Stück noch übertroffen, denn die Küsterin, Jenůfas Stiefmutter, setzt das Mädel, das vor wenigen Tagen Mutter geworden ist, unter Drogen und tötet das Baby. Aus Sorge um den eigenen Ruf? Aus Sorge um Jenůfa? Gewiss, aber auch aus Überzeugung, richtig zu handeln, schließlich erlebt sie Übergriffe auf die in der dörflichen und familiären Hackordnung Untergeordneten als normal, wenn nicht sogar notwendig.

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Eliška Weissová (Kostelnička) und Asmik Grigorian (Jenůfa)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Dies auf der Bühne zu sehen ist Mahnung und Auftrag, besser zu sein, auf die eigenen Grenzen und die Grenzen der Anderen zu achten. Es ist auch ein schönes Beispiel dafür, dass das, was scheinbar gegen den Zeitgeist ist, über das Erlebnis auf der Bühne Sinn machen kann. Das gilt auch für die Vergebung, das finale und zentrale Thema in dieser Oper. Jenůfas Entscheidung, der Stiefmutter zu verzeihen und die Ehe mit Laca zu wagen, entspringt nicht einem alternativlosen Arrangement mit dem Schicksal oder einer masochistischen Unterordnung in einer klerikal-patriarchalischen Umgebung, sondern primär dem, was man heute als Resilienz bezeichnet: Wachstum durch Leid und die Gewissheit innerer Stärke, vielleicht auch Glaube – ob an Lacas Liebe, den lieben Gott oder beides, sei dahingestellt.

Für die anspruchsvolle Titelpartie konnte die Wiener Staatsoper Asmik Grigorian gewinnen, die man kaum mehr vorstellen muss. Es ist beeindruckend und fast schon unheimlich, wie sie sich von Erfolg zu Erfolg schwingt, und man kann sich vorstellen, wie viel Arbeit – neben ihrem unbestrittenen Talent – in ihrer Rollengestaltung steckt. Wie sie sich im ersten Akt ihren Geliebten und seine zunehmende Alkoholisierung schönredet, ist naiv und berührend, und die kindliche Unterwürfigkeit gegenüber der Stiefmutter im zweiten Akt wirkt selten so überzeugend. Selbstredend beherrscht sie auch alle anderen geforderten Emotionen, sei es nun ihr eindringlich gesungenes Gebet oder ihre genervte, aber nicht uncharmante Abwehr des zunächst lästigen Verehrers Laca.

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Asmik Grigorian (Jenůfa)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Als dieser überzeugte David Butt Philip mit strahlender Stimme und subtiler Gestaltung in einem Maß, der ihm am besprochenen Abend fast noch mehr Schlussapplaus als seiner Partnerin einbrachte – auf seinen Stolzing in Die Meistersinger von Nürnberg darf man schon gespannt sein. Eliška Weissová ist in dieser Serie erstmals an der Wiener Staatsoper zu hören und gibt eine mächtige Küsterin mit großer vokaler Kraft und darstellerischer Wucht, womit sie einen interessanten Kontrapunkt zur mädchenhaften Leichtigkeit und Agilität ihrer Ziehtochter setzt. Margarita Nekrasova als alte Buryja ergänzt das Damentrio perfekt. Števa ist mit dem Charaktertenor Michael Laurenz ebenfalls ausgezeichnet besetzt. Lächerlichkeit, Narzissmus und seelische Grausamkeit gehen in dieser Partie Hand in Hand, doch muss Števa auch anziehend wirken – Laurenz‘ hintergründiger Charme lässt diesbezüglich an eine jüngere Version von Christoph Waltz denken. Auch die kleinen Rollen waren überzeugend besetzt; neben bekannten Namen konnte etwa das neue Opernstudio-Mitglied Daria Sushkova als Schäferin auf sich aufmerksam machen.

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David Butt Philip (Laca) und Asmik Grigorian (Jenůfa)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

David Pountneys nunmehr zwanzigjährige Inszenierung bietet für die ersten beiden Akte eine beeindruckende Mühle und Wände aus Mehlsäcken auf; die Leere des letzten Aktes wirkt aber austauschbar und könnte, von den liebevoll gestalteten Kostümen abgesehen, auch für Lohengrin oder Macbeths Bankett herhalten. Dass bei Personenregie und -choreographie trotz sorgfältiger Neueinstudierung Luft nach oben ist, fällt bei den großartig agierenden Solistinnen und Solisten nicht auf, zeigt sich aber bei Chor und Statisterie, die teilweise übertrieben agieren. Über diese Kleinigkeiten wird man durch die musikalische Qualität des Abends hinweggetröstet, für die neben dem Bühnenpersonal auch Tomáš Hanus am Pult sorgte – besonders gut gelingen die rhythmisch fordernden Passagen, die die Handlung vorantreiben. Schade nur, dass dieses gerade einmal spielfilm-lange Werk durch zwei lange Umbau-Pausen unterbrochen wird, und man so aus dem Fluss des Geschehens herausgerissen wird.

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