Von der Kraft der Menschlichkeit: »Fidelio« neu am Staatstheater Wiesbaden

Fidelio ~ Staatstheater Wiesbaden ~ Leonore/Fidelio (Barbara Haveman) ~ Foto: Lena Obst
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Die erste Opern-Neuinszenierung der neuen Spielzeit am Staatstheater Wiesbaden setzt in mehrfacher Hinsicht Zeichen. Inmitten eines Krieges in Europa wird Beethovens Freiheitsoper Fidelio gespielt. Inszeniert von einer Frau, die bisher als renommierte Sängerin bekannt ist: Evelyn Herlitzius. Am Staatstheater Wiesbaden war sie u. a. als Brünnhilde in Wagners Götterdämmerung zu erleben, zuvor 2014/2015 als Färberin in Strauss´ Frau ohne Schatten. Ihr Regie-Debüt am Staatstheater Wiesbaden ist ihr gut gelungen, das Premierenpublikum jubelte und unterstrich die Begeisterung mit Standing Ovations.

Fidelio
Staatstheater Wiesbaden
Rocco (Dimitry Ivashchenko), Leonore/Fidelio (Barbara Haveman)
Foto: Lena Obst

Unrechtsbewusstsein wird mit Alkohol verdrängt

Herlitzius hat die Rolle der Leonore/Fidelio selber mehrfach verkörpert, u. a. an der Semperoper Dresden, dem Saarländischen Staatstheater Saarbrücken und bei den Bregenzer Festspielen. Ihre Inszenierung ist bildreich, publikumsfreundlich und zeitlos. Ihr Blick beschränkt sich nicht auf die tapfere Leonore, ihren versteckt einsitzenden Gatten Florestan und das Paar Marzelline und Jaquino. Der Figur des Kerkermeisters Rocco widmet sie ein besonderes Augenmerk. Gerade weil er nur seinen Job verrichtet, die geplante Hinrichtung Florestans selber nicht ausführen will, ist er ein klassischer Mitläufer. Er scheint sich sein Unrechttuns bewusst zu sein, verdrängt es aber lieber mit Alkohol.
Während der kurzen Umbaupause zwischen Kerker- und Hof-Szene im 2. Akt wird ein Zitat von Papst Franziskus aus 2017 projiziert: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die Idealisierung eines Menschen stets auch eine unterschwellige Art der Aggression ist.“. Wie ist Leonores Heldentat unter diesem Aspekt zu sehen? Wie blicken wir heute auf Menschen, die gegen Unrecht in der Welt ankämpfen? Und was ist mit all den Menschen, die heute wegen ihrer Ansichten spurlos verschwinden? Um diese Gedanken zu vertiefen, steht die Inszenierung in Zusammenarbeit mit der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die an den Vorstellungstagen mit einem Infotisch im Foyer vertreten ist.

Fidelio
Staatstheater Wiesbaden
Jaquino (Ralf Rachbauer), Marzelline (Anastasiya Taratorkina)
Chor Foto: Lena Obst

Keine tagespolitischen Bezüge

Auf durchaus naheliegende konkrete tagespolitische Bezüge verzichtet die Inszenierung von Evelyn Herlitzius. Videoprojektionen gibt es nur während der Ouvertüre. Dabei ist ein verliebt wirkendes, weiß gekleidetes Paar zu sehen. Die beiden hängen sich gegenseitig eine Kette um und gehen dann ins Freie, in die Natur. Dort sitzen sie an einem Tisch, genießen Wein und Trauben. Das Idyll wird von zwei Männern an den Seiten flankiert. Wenn einer der schwarz gekleideten die Tafel verlässt, ist klar, es wird etwas passieren… Soviel zur Vorgeschichte der Liebe zwischen Leonore und Florestan.

Frank Philipp Schlößmanns Bühne zeigt eine Haftanstalt mit Innenhof. Die Rückwand besteht aus drei Ebenen mit sechs bzw. acht Zellen und einem Wachhäuschen. In den Zellen sind von den männlichen Insassen zunächst nur die Schatten zu sehen. Sie stehen, die Arme weit ausgestreckt an der Wand, hängen ab oder kauern auf dem Boden. Im Innenhof stehen Liegen und vor einem Baum ein Grill. Seitlich sind weitere Fronten der Haftanstalt zu sehen. Bei der Kerker-Szene im 2. Akt bleibt die Szenerie zunächst dunkel, nur sehr langsam ist der in Ketten an einem Gitter liegende Florestan zu sehen (zu hören schon früher). Zum großen Finale finden sich auch die Partnerinnen der Gefangenen ein, ein hoffnungsfroh stimmendes Bild.

Fidelio
Staatstheater Wiesbaden
Florestan (Marco Jentzsch)
Foto: Lena Obst

Das Ende lässt den Beziehungsstatus offen

Am Ende zieht das Volk Leonore weg von Florestan (der traumatisiert kopfüber einem Tisch, wie aus dem Film zu Beginn, hängt) zu sich in die Mitte. Die Hochzeitszeitung in der sie einst blätterte, liegt nunmehr nutzlos herum. Auf dem herabgelassenen Vorhang zeigt schließlich eine Projektion allein Leonores Porträt, die freundlich lächelt. Ihr Wagemut hat Florestan befreit, die Kraft der Menschlichkeit hat die Tyrannei beendet. Aber ob sie eine gemeinsame Zukunft haben, ist hier sehr fraglich.

Fidelio
Staatstheater Wiesbaden
Marzelline (Anastasiya Taratorkina), Chor
Foto: Lena Obst

Beethovens emotionale, kraftvolle und stimmungsreiche Musik dominiert die Aufführung. Unter der Leitung des ehemaligen Generalmusikdirektors des Staatstheaters Darmstadt, Will Humburg, spielt das hessische Staatsorchester Wiesbaden mit großer Hingabe, nahezu beseelt. Der von Albert Horne einstudierte Chor und Extrachor trumpft für das Finale kraftvoll auf. Die anspruchsvolle Titelrolle gibt die Sopranistin Barbara Haveman mit Inbrunst und dramatischer Schärfe. Ihre große Erfahrung, auch als Wagner-Sängerin, ist gut hörbar. Tenor Marco Jentzsch als geschundener Florestan, kann sich stimmlich groß herausbringen. Sehr präsent ist der Rocco des wohltönenden Bass Dimitry Ivashchenko. Der Jaquino des Tenors Ralf Rachbauer bedrängt Marzelline nicht nur verbal. Dennoch nimmt er, ob seiner ungestümen Liebe zu ihr, für sich ein. Marzelline verkörpert frohen Mutes und klangschön die junge Sopranistin Anastasiya Taratorkina. Sie zählt seit dieser Spielzeit neu zum Ensemble des Staatstheater Wiesbaden und lässt aufhorchen. Stimmig fügen sich der brachiale Don Pizarro des Claudio Otelli und der staatsmännische Don Fernando des Christopher Bolduc ein. Aus dem Kreis der Gefangenen ragen Yoontaek Rhim (1. Gefangener) und Petro-Pavlo Tkalenko (2. Gefangener) klangschön hervor.

Markus Gründig, Oktober 22


Fidelio

Oper in zwei Akten
Von: Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Libretto: Joseph Sonnleitner und Stephan von Breuning

Uraufführung: 20. November 1814 (Wien, Theater an der Wien)
Uraufführung 2. Fassung: 29. März 1806 (Wien, Theater an der Wien)
Uraufführung 3. Fassung: 23. Mai 1814 (Wien, Kärntnertortheater)

Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 16. Oktober 2022 (Großes Haus)

Musikalische Leitung: Will Humburg
Inszenierung: Evelyn Herlitzius
Bühne & Kostüme: Frank Philipp Schlößmann
Licht: Andreas Frank
Chor: Albert Horne
Dramaturgie: Constantin Mende
Theaterpädagogik: Anne Tysiak

Besetzung:

Leonore: Barbara Haveman
Florestan: Marco Jentzsch
Don Pizarro: Claudio Otelli, KS Thomas de Vries
Rocco: Dimitry Ivashchenko
Marzelline: Anastasiya Taratorkina, Anna El-Khashem
Jaquino: Ralf Rachbauer
Don Fernando: Christopher Bolduc, Benjamin Russell
1. Gefangener: Yoontaek Rhim
2. Gefangener: Petro-Pavlo Tkalenko
Gefolge Pizarros: Christopher Peter, Seongbeom Gu, Joachim Schultes, Agostino Subacchi, Tim-Lukas Reuter, Jens Böhler, Matthieu Segui, Leo Simanjuntak

Chor & Extrachor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden


staatstheater-wiesbaden.de