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Opern-Kritik: Staatstheater Nürnberg – Talestri

Eine nicht eingelöste Friedensutopie

(Nürnberg, 13.11.2022) Am Staatstheater Nürnberg inszeniert Ilaria Lanzino eine echte Rarität und bringt mit Maria Antonia Walpurgis‘ „Talestri – Königin der Amazonen“ eine Rokoko-Oper aus der Feder einer Frau auf die Bühne. Der Ansatz, das Werk mit einem Fokus auf Femizide umzusetzen, verstärkte das Wirkungspotenzial der Oper.

vonWolfgang Wagner,

Die Produktion von Maria Antonia Walpurgis‘ „Talestri – Königin der Amazonen“ begann schon einen Tag vor der Premiere mit der Installation „Zapatos Rojos – Rote Schuhe“ nach Elina Chauvet. Im Vorfeld hatte das Staatstheater Nürnberg dazu aufgerufen, Damenschuhe zu spenden, die rot eingefärbt und dann auf dem Richard-Wagner-Platz Teil eines Kunstwerks wurden. Jedes Paar Schuhe repräsentierte eine Frau, die einem Femizid zum Opfer fiel. Damit wurde eine Aktion aufgegriffen, die Elina Chauvet erstmals 2009 im mexikanischen Juárez Chihuahua auf einem öffentlichen Platz durchführte und die Aktivistinnen und Aktivisten seitdem in vielen Ländern adaptiert haben. Am Premierenabend kamen die roten Schuhe dann als Requisiten und integriert in das Bühnenbild in der Staatsoper Nürnberg zum Einsatz.

Szenenbild aus „Talestri — Königin der Amazonen“
Szenenbild aus „Talestri — Königin der Amazonen“

Bedrückende Klangcollage zur Vorgeschichte

Mit Maria Antonia Walpurgis‘ um 1760 vollendeter Oper „Talestri – Königin der Amazonen“ steht das Werk einer Ausnahmekünstlerin auf dem Programm. Die Komponistin war die Tochter des bayerischen Kurfürsten Karl Albrecht und die Frau des sächsischen Kurprinzen Christian Friedrich. Einer breitgefächerten künstlerischen Ausbildung in München schloss sich in Dresden Unterricht bei den Komponisten Nicola Porpora und Johann Adolph Hasse an, den bedeutendsten Opernkomponisten der Zeit. Die hochkreative Maria Antonia Walpurgis schrieb sich für ihre zweite Oper ein eigenes italienischsprachiges Libretto, war Dichterin und Komponistin in Personalunion.

Die Nürnberger Vorstellung beginnt mit einer der Ouvertüre vorangestellten Klangcollage, die die Verfolgung und Vergewaltigung einer Frau akustisch vermittelt. Damit setzt Regisseurin Ilaria Lanzino das Schicksal der Amazonen-Oberpriesterin Tomiri (Eleonore Marguerre) in den Fokus, die vor der Gegenwart der eigentlichen Opernhandlung als junge Frau vom König der Skythen geraubt, aber nach der Geburt eines gemeinsamen Sohnes verstoßen wurde. Eben jener Sohn, der skythische Prinz Oronte (Ray Chenez), schleicht sich Jahre später als junger Mann in Mädchenkleidung an den Hof der Amazonen, um deren Prinzessin Talestri (Julia Grüter) kennen zu lernen, von deren Schönheit er wiederholt hat erzählen hören.

Szenenbild aus „Talestri — Königin der Amazonen“
Szenenbild aus „Talestri — Königin der Amazonen“

Detaillierte Personenregie mit szenischen Choreografien

Zu Beginn der Handlung zeigt das Bühnenbild von Emine Güner einen abstrahierten Raum, dessen weiße Rückwände von roten Schuhen übersät sind. Talestri soll ihrer verstorbenen Mutter auf den Thron nachfolgen und bei ihrer Krönung den Männern entsagen. Weil sie aber in Oronte verliebt ist, leidet sie daran, zwischen Pflicht und Gefühl hin und her gerissen zu sein. Von Anfang an begeistert Ilaria Lanzinos detaillierte und ausdifferenzierte Personenregie, die viel Bewegung auf die Bühne bringt und selbst die zahlreichen stummen Rollen von Amazonenkriegerinnen ausgestaltet. Dazu kreierte Ilaria Lanzino szenische Choreografien, die das kämpferische Wesen der Amazonen vermitteln.

Unterstützt wird die starke Regiearbeit dadurch, dass in der Nürnberger Fassung der Oper die Rezitative stark gekürzt und ins Deutsche übersetzt sind. Im Ergebnis nimmt die szenische Handlung ordentlich Fahrt auf. Die Nürnberger Philharmoniker spielen historisch informiert auf modernen Instrumenten und sind um je zwei Cembali und Theorben ergänzt. Da die Partitur an zahlreichen Passagen einen Basso continuo vorsieht, in dem die Theorben solistisch auftreten, also nicht von den Cembali begleitet, kommt deren charakteristischer Klang immer wieder gut zur Geltung.

Szenenbild aus „Talestri — Königin der Amazonen“
Szenenbild aus „Talestri — Königin der Amazonen“

Drei Trümpfe in der Besetzung der Frauenpartien

Die Besetzung trumpfte für die drei umfangreichen Frauenpartien von Talestri, ihrer Schwester Antiope und Tomiri mit fantastischen Sängerinnen auf: Julia Grüter und Corinna Scheurle aus dem Hausensemble sowie dem Gast Eleonore Maguerre. Sie alle gaben ihre Partien mit einer Mühelosigkeit, die die Musik als Pendant zur gesprochenen Sprache als rhetorischen Gestus erlebbar machte. Eleonore Maguerre in der Partie der Oberpriesterin hatte ein besonders breites Ausdrucksspektrum zu liefern. Denn sie musste einerseits als Oberpriesterin die harte Vertreterin des Gesetzes mimen. Andererseits die Konfrontation mit der eigenen Missbrauchserfahrung und den Konflikt bei der Begegnung mit Oronte, den sie nach vielen Wirren als ihren eigenen Sohn erkennt, darstellen. Beides gestaltete sie absolut glaubwürdig.

Julia Grüter in der Titelpartie der Talestri, die wegen ihrer Liebe zu Oronte gegen die Gesetze der Amazonen rebelliert, zeigte ihre Darstellungskunst besonders eindrücklich im dritten Akt, als sie in der Arie „Pallid’ombra, che d’intorno“ ihren Wunsch reflektiert, dem totgeglaubten Oronte ins Jenseits zu folgen. Diese umfangreiche Nummer, die mit Soli für die Querflöte und das Fagott schließt, bot auch den Nürnberger Philharmonikern eine gute Gelegenheit, zu glänzen.

Szenenbild aus „Talestri — Königin der Amazonen“
Szenenbild aus „Talestri — Königin der Amazonen“

Avancen per Handschlag

Als Interpretin der Rolle von Talestris Schwester Antiope, die sich in den massagetischen Prinzen Learco (Sergei Nikolaev) verliebt, arbeitete Corinna Scheurle die charakterlichen Unterschiede zu Talestri gut heraus. Sie ist diejenige von beiden, die von der Mentalität der Amazonen stärker geprägt ist und sich im Zweifel nimmt, was sie will. Bei ihrer Annäherung an Learco schüttelt sie ihm zunächst forsch die Hand, und auch als sie ihn verführt hat und er danach eine intime Umarmung sucht, folgt sie diesem Impuls und schüttelt ihm stattdessen zur Besiegelung der Vereinigung erneut die Hand.

Countertenor Ray Chenez als Oronte lieferte seinen Part so souverän ab, dass man dem jungen Sänger nur wünschen kann, seine Karriere möge so rasant weitergehen wie in den letzten Jahren. Auch der Tenor Sergei Nikolaev überzeugte in der Rolle des Learco – trotz der unweigerlichen stimmlichen Einschränkungen einer Erkältung.

Szenenbild aus „Talestri — Königin der Amazonen“
Szenenbild aus „Talestri — Königin der Amazonen“

Hinterfragter Friedensschluss

Den Friedensschluss zwischen Skythen und Amazonen am Ende der Oper hinterfragt Ilaria Lanzino. Als Oronte sich vermittelnd zwischen die Fronten stellt und die Krieger und Kriegerinnen für einen versöhnlichen Handschlag aufeinander zugehen, stoßen die Männer die Frauen unerwartet an sich vorbei. Die Bühne leert sich, Tomiri bleibt zurück, sieht sich der Erinnerung an ihre Vergewaltigung ausgeliefert und stürzt zu Boden, während ein Konvolut roter Schuhe von oben auf die Bühne kracht.

Anna Maria Walpurgis‘ Talestri-Oper, die man, neben weiteren Deutungsebenen, als Vision vom Frieden zwischen den Geschlechtern (in der Vorlage legen die Männer zuerst die Waffen nieder) verstehen kann, wird so als bis heute nicht eingelöste Utopie dargestellt. Das verstärkt aber nur die Aktualität des Werks, das in der Nürnberger Produktion als höchst spannendes Stück Musiktheater geboten wird.

Staatstheater Nürnberg
Walpurgis: Talestri – Königin der Amazonen

Wolfgang Katschner (Leitung), Ilaria Lanzino (Regie), Emine Güner (Bühne & Kostüme), Thomas Schlegel (Licht), Julia Grüter, Eleonore Marguerre, Corinna Scheurle, Ray Chenez, Sergei Nikolaev, Mai Förster, Shuting Wang, Romane Petit, Chiara Viscido, Aiga Keller-Ginsberg, Elodie Lavoignat, Sandra Lommerzheim, Anna Mair, Carola Diem, Staatsphilharmonie Nürnberg

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