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Opern-Kritik: Opéra National de Lorraine – L’Amour des trois oranges

Märchenhafte Menschwerdung

(Nancy, 16.11.2022) Die junge Dirigentin Marie Jacquot und die junge Regisseurin Anna Bernreitner bilden in Lothringen ein Dream-Team im Dienste von Prokofjews Komödienkunst.

vonPeter Krause,

Eine kleine Welt spielt großes Theater. Ganz normale Menschen werden zu Königen und Prinzessinnen, zur mächtig bösen Zauberin Fata Morgana und zum leicht debilen, herzensguten wie ziemlich tuntigen Truffaldino, jenem Spaßmacher, dessen Vorbild auf den lebensprall bunten Straßen Neapels von jeher, nun also auch im schnuckelig lothringischen Nancy sein Unwesen treibt. Sie alle spielen Rollen, die ihnen zuwachsen und zugeschrieben werden samt all den Erwartungen, die es zu erfüllen gilt, wenn man denn so ein echter Prinz sein möchte. Just der Königssohn aber will so gar nicht ins Schema passen in diesem herrlich witzigen wie weisen Opernmärchen, das Sergej Prokofjew auf Basis der Commedia dell’arte des Carlo Gozzi schuf und für die Uraufführung in Chicago anno 1921 eigens ins Französische übersetzte. Der Märchenmann ist schwermütig, gute Laune geht anders.

Wie kreiert man einen perfekten Opernabend?

Die Premiere an Frankreichs kleinstem Nationaltheater, dem Opernhaus von Nancy, findet somit in der Originalfassung statt. Und das tut diesem Wunderwerk entsprechend gut. Die Besetzung mit Muttersprachlern, die genau verstehen, welchen Witz sie da gerade über die Rampe bringen, ist einer der vielen Türöffner für einen perfekten, einen gleichsam idealen Opernabend. Einzelne Sänger der langen Liste von Mitwirkenden hervorzuheben, hieße, ebenso wunderbare Exemplare zu vernachlässigen. Also beginnen wir einfach mit der größten Entdeckung dieser Premiere – der jungen Dirigentin Marie Jacquot. Von der jungen Französin werden wir hören, doch dieser Satz ist noch eine gelinde Untertreibung. In Wien ausgebildet und in Düsseldorf als Kapellmeisterin in die ganze Breite des Opernrepertoires eingestiegen, ist Marie Jacquot nun designierte Chefdirigentin des Opernhauses von Kopenhagen. Hier wird sie 2024 ihr neues Amt antreten.

Szenenbild aus „L'Amour des trois oranges“ an derDie Inszenierung von Prokofjews „L'Amour des trois oranges“ an der Opéra national de Lorraine
Szenenbild aus „L’Amour des trois oranges“ an derDie Inszenierung von Prokofjews „L’Amour des trois oranges“ an der Opéra national de Lorraine

Eine junge Dirigentin startet durch: Marie Jacquot

Sergej Prokofjews Partitur der multiplen Takt- und Charakterwechsel, die den herrlichen Komödientypen auf der Bühne ihr passgenaues und gattungsgemäß gleichermaßen ironisch zugespitztes wie einfühlsames Klanggewand anlegen, setzt die junge Maestra mit einer nachgerade altmeisterlichen Souveränität um. Jede Pore, will sagen: Ein jeder Taktteil der Musik sprüht vor Humor, ist mit dem famos disponierten Orchester der Opéra national de Lorraine pointiert präzise ausgearbeitet, gewinnt artikulatorische Genauigkeit, gewinnt dadurch eine ungemein sprechende Qualität. Und wäre dies nicht bereits genug an Exzellenz, kommt es einer Erfüllung nahe, da Jacquots Prokofjew eben nie nur durchkonstruiert komplexe Kunst in absoluter Akkuratesse ist, sondern in schönster Dialektik stets auch sanguinisch lustbetont aus dem Graben tönt. Da gibt man sich dem Strom der kompositorischen Einfälle nur allzu gern hin.

Typentheater wie aus dem Bilderbuch

Musiktheater als Gesamtkunstwerk entsteht nun aber, da sich Anna Bernreitner und ihr Regieteam hellhörig auf jede Regung der Musik einlassen. Die junge Österreicherin, die ihr Komödienhandwerk (und eben nicht nur die intellektuelle Konzeptlastigkeit des Regietheaters) scheinbar traumwandlerisch beherrscht, kreiert ein Typentheater wie aus dem Bilderbuch, setzt in Mimik und Gestik auf die genaue Überzeichnung der Charaktere, knüpft mit den groß überschminkten Augen ihrer Sängerinnen und Sänger an die Stummfilmästhetik an und gibt die Figuren dennoch nicht der absoluten Lächerlichkeit preis.

Szenenbild aus „L'Amour des trois oranges“ an derDie Inszenierung von Prokofjews „L'Amour des trois oranges“ an der Opéra national de Lorraine
Szenenbild aus „L’Amour des trois oranges“ an derDie Inszenierung von Prokofjews „L’Amour des trois oranges“ an der Opéra national de Lorraine

Der szenische Witz dient vielmehr direkt der Weisheit des Werks, getreu der Shakespeare-Erkenntnis, dass in jeder großen Komödie stets auch eine erschütternde Tragödie versteckt ist. So macht zumal der depressive Prinz, der partout über nichts und niemanden mehr lachen kann, eine berührende Entwicklung durch, die dann eben doch zu einem veritablen Happy End führt. Nach allerhand bedrohlichen Abenteuern wird er märchenhaft zum wahren Menschen verwandelt durch die Liebe zur ihrerseits mehrfach durch den Fleischwolf (von der Orange, zur Ratte und schließlich zur standesgemäßen Prinzessin) gedrehten Ninette.

Wenn das Chorkollektiv heimlich Gott spielt

Das Große im Kleinen wie die kleine Welt in der großen Welt spiegeln sich dabei auf der Drehbühne, die eine mittelalterliche Märchenburg ziert, wie sie auf einem Kinderspielplatz für fantasiebegabte Besserverdienende stehen könnte. Das Ausstatter-Duo von Manfred Rainer und Hannah Oellinger haben diese Wunderwelt ersonnen, in der dem Auftritt des Königs eine veritable Hängebrücke en miniature dient. Oben und Unten, Gut und Böse lassen sich so standes- und märchengemäß trennen, die köstlichen Kostüme unterstreichen die Setzungen der Inszenierung. Über und neben all dem aber wölbt sich ein Umgang, der dem Chorkollektiv als Aufenthalts- und Spielort dient.

Szenenbild aus „L'Amour des trois oranges“ an der Opéra national de Lorraine
Szenenbild aus „L’Amour des trois oranges“ an der Opéra national de Lorraine

Die weiß gewandeten Gestalten, die aus dem Publikum heraus auftreten, könnten Wissenschaftler sein, die in teilnehmender Beobachtung das Geschehen heimlich lenken – und in der Tat auch die Steuerung der Bühne wie ein Inspizient innehaben. Der Chor könnte demnach die Funktion eines das Schicksal in die richtige Richtung lenkender Deus ex Macchina innehaben, der nun nicht mehr als allmächtige Instanz, sondern als Kollektiv über die Menschen da unten auf der Welt entscheidet. Eine Pointe des Regiekonzepts ist, dass die mittlere Rolle des Tschelio (er ist Zauberer und Beschützer des Königs) hier zu einem gottgleichen Zeremonienmeister mit Rauschebart aufgewertet erscheint. Dieser in die Jahre gekommene Allmächtige hat auch einen Haufen Bestechungsgeld dabei, um die Dinge in seinem Sinne zu lenken. Sozialexperimente im wahren Leben und zumal in der Wirklichkeit der Bühne gehen also nicht unbedingt immer mit rechten Dingen zu.

Auf nach Lothringen, es lohnt sich

Ja, das Haus der Opéra national de Lorraine an der schmuck großzügigen Place Stanislas von Nancy geht unter seinem jungen, klug integrierenden Intendanten Matthieu Dussouillez einen Pfad des Glücks. Der Franzose kauft nicht etablierte Namen ein, die er sich ohnehin kaum leisten kann, vielmehr er wird zum seinerseits hochbegabten Talentscout – in diesem Falle gar von einer dezidiert weiblich geprägten Power am Regie- wie am Dirigentenpult. Der Weg nach Lothringen lohnt sich immer mehr, nicht nur kulinarisch.

Opéra national de Lorraine
Prokofjew: L’amour des trois oranges

Marie Jacquot (Leitung), Anna Bernreitner (Regie), Manfred Rainer & Hannah Oellinger (Bühne & Kostüme), Paul Grilj (Licht), Dion Mazerolle / Matthieu Lécroart, Pierre Derhet, Lucie Roche, Anas Séguin, Léo Vermot-Desroches, Aimery Lefèvre, Tomislav Lavoie, Lyne Fortin, Margo Arsane, Anne-Sophie Vincent, Amélie Robins, Patrick Bolleire, Benjamin Colin, Ill Ju Lee, Eric Afergan, Mathieu Cazanave, Antonin Cloteau, Romain Guyot, Orchester und Chor der Opéra national de Lorraine

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