Die Oper „Giustino“ nimmt einen besonderen Platz in der Berliner Operngeschichte ein. Denn in der Version von Georg Friedrich Händel hielt sich die wundersame Geschichte vom Hirten, der nach dem Kampf mit einem Seeungeheuer und seinem Einsatz als Kriegsheld zum byzantinischen Kaiser Justinian der Große aufsteigt, an der Komischen Oper unglaubliche 99 Vorstellungen lang – von 1984 bis 1996.
Das war der witzigen Inszenierung Harry Kupfers ebenso zu verdanken wie dem beherzt historisch informierten Dirigat Hartmut Haenchens. Ganz besonders auch den zwei, mit großen, bewimperten Augen klimpernden Kuhpuppen des berühmten Eduard Fischer. Vor allem aber einem Sänger, der damit seinen Aufstieg zum Star erlebte und hierzulande ein bisher exotisches Stimmfach salonfähig machte: dem Berliner Countertenor Jochen Kowalski.
Der 68-jährige Kammersänger – eigentlich schon längst in Rente – ist gerade an der Lindenoper als Amme Arnalta in Monteverdis „Poppea“ zu erleben. Und im selben Haus, das längst (die Deutsche Oper hat ihre Bemühungen um die historische Aufführungspraxis zum Glück aufgegeben, die Komische Oper kämpft damit jedes Mal) zum Epizentrum der Berliner Barockopernpflege wurde, steht jetzt ein ehemaliger Countertenor am Pult und dirigiert mit der größten Selbstverständlichkeit seine beiden französischen und italienischen Stimmfachgenossen Christophe Dumaux und Raffaele Pè in der „Giustino“-Version von Antonio Vivaldi. Es ist – eigentlich unfassbar – das erste Musiktheaterwerk Vivaldis auf einer Berliner Bühne.
Viel zurückhaltender und gelassener als früher sitzt der inzwischen 76-jährige René Jacobs am Pult der ihm ergeben folgenden Akademie für Alte Musik Berlin. Mit dem kleinen Finger entlockt er lässig den mit ihm gewachsenen Instrumentalisten hier ein Zwitschern und da ein Seufzen.
Die Trompeten schallen, die Zither zirpt, die Laute, die Gitarre schnarrt. Wo plötzlich der „Frühling“ aus den „Vier Jahreszeiten“ als Selbstzitat auftaucht, da mischt Jacobs auch noch anderen Jahreszeiten unter. So hat er es immer schon gehalten, alte Partituren mit seinem untrüglichen Theaterinstinkt bunter gefärbt, dramatisch zugespitzt, für ein heutiges Publikum unterhaltsam gemacht.
Erst eine Reihe, dann Tradition
Wer hätte das gedacht? 1992 feierte man, zugleich mit dem Amtsantritt von Daniel Barenboim, mit Grauns damaligem Eröffnungsspektakel „Cesare e Cleopatra“ das 250-jährige Bestehen der Lindenoper als ältestes frei stehendes Hoftheater. Barenboim, der viel Mächtigere ist immer noch da, kann aber gegenwärtig krankheitsbedingt nicht dirigieren, René Jacobs aber leitet seine Jubiläumsoper selbst.
Der als Alte-Musik-Redakteur vom damaligen SFB gekommene Intendant Georg Quander hatte die Idee, Jacobs und eine Alte-Musik-Formation einzuladen. Daraus wurde schnell eine Reihe, dann eine Tradition.
Und auch wenn Barenboim bald eifersüchtig wurde, er brauchte die Spielpause der Staatskapelle für seine Tourneen mit ihr. Zwar gab es immer wieder Barockpausen, aber René Jacobs ist stets zurückgekommen; auch weil die letzten Intendanten Matthias Schulz und Jürgen Flimm Fans dieses Repertoires sind.
Schulz hat freilich zwei Spielzeiten lang endlich Rameau und Campra mit anderen Dirigenten angesetzt, denn Jacobs hat von der französischen Barockoper immer die Finger gelassen. Aber dafür hat er die Berliner mit italienischen Opern wie szenischen Oratorien von Graun, Gassmann, Händel, Hasse, Monteverdi, Mozart, Cavalli, Scarlatti, Haydn, Traetta, Steffani und de Cavalieri, deutschen von Telemann und Keiser sowie einer englischen von Purcell begeistert. Insgesamt 26 Premieren und diverse konzertante Titel hat er so herausgebracht. Das ist in der deutschen Operngeschichte einmalig.
Wie schön diese Musiksaat aufgegangen ist, das war eben jetzt bei Vivaldis 1724 für ein Kastratenensemble in Rom komponiertem „Giustino“ zu erleben. Zwar ist Vivaldi, der rote Priester, nicht der beste aller Dramaturgen, aber er schreibt wunderschön melodische Arien, die auch über dreieinhalb Stunden Spieldauer das ergebene Publikum in die Verzückung treiben. Obwohl der Regisseurin Barbora Horakova außer einigen Firlefänzchen auf einer schrappelig halbfertigen Barockbühne szenisch nichts wirklich Erhellendes oder gar Sinnfälliges dazu eingefallen ist.
Sei’s drum. Hier regieren, das war früher nicht anders, eben mal wieder uneingeschränkt die Sänger und die Instrumentalisten. Die sind makellos. Christophe Dumauxs Schäfer hat Kraft und Vibratozartheit, Raffaele Pès verzogener Kaiser Anastasio teilt Narzissmus und Attitüde auch vokal mit und singt trotzdem charakterschönst. Koloraturlocker perlen die schwägerlichen Soprane von Kateryna Kasper (Arianna, Kaisergattin) und der zeitweise als singendes Sahnetörtchen ausstaffierten Robin Johannsen (Leocasta, Kaiserschwester).
Doch das Zentrum dieses dann eben doch denkwürdig vielgestaltigen „Gustino“ bleibt stets der lockige Graukopf im hochgefahrenen Graben. René Jacobs ist ganz Souveränität und Spontaneität, Wissen und Neugierde, Affektion und Disziplin. So ereignet sich neuerlich ein schwerelos schönes, barockes Opernfest. Ad multos annos!