Bunte Raufszene: Regisseur Keith Warner versteht auch die Massen zu bewegen.

Pöhn

Nun ist es also schon zehn Jahre her, dass an der Wiener Staatsoper eine "Meistersinger"-Aufführung der fast 50 Jahre alten Inszenierung von Otto Schenk stattfand. Inzwischen hat man andernorts, etwa bei den Bayreuther Festspielen, eine deftige Regietheater-Version von Barrie Kosky sehen können, der das Ganze in der Wagner-Villa Wahnfried und im Gerichtssaal der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse spielen ließ.

Wagners Antisemitismus und die Vereinnahmung des Werkes durch die Nazis waren da ein gewichtiges Thema, während Jahre zuvor bei den Salzburger Festspielen mehr das Fantasievoll-Märchenhafte eine Rolle spielte. Regisseur Stefan Herheim ließ die Figur des Hans Sachs gewissermaßen die Oper selbst träumend schreiben und mit bekannten Märchenfiguren die Bühne fluten.

Gestiefelter Kater

Nun also Keith Warner an der Wiener Staatsoper. Auch der Brite setzt bei Schuster Sachs auf Traum und Albtraum eines leidenden Künstlers, dessen Innenleben und Assoziationen als surreale Bühnenwirklichkeit aufblühen. Waren in Salzburg bei Herheim unter anderen die sieben Zwerge mit Schneewittchen zugegen, auch der gestiefelte Kater wie auch der Froschkönig, sind bei Warner ein Kobold, Raben, goldener Videoadler und Gestalten der Historie Elemente seiner schillernden Inszenierung.

Keith Warner wandert durch die Jahrhunderte: Figuren aus dem 16. Jahrhundert treten auf, auch Wagners 19. Jahrhundert kommt vor, und zu entdecken sind Momente jener Zeit nach 1945, nach der Katastrophe.

Äußerlich geht es natürlich um Ritter Walther, dessen Musikalität alle Regeln sprengt und doch wundersam Inspiration und Innovation vereint. Die ihn prüfenden Meister, hier sehr markant gezeichnet, werden durch den Eindringling, der Eva liebt, in ihren Grundfesten erschüttert.

Kraftlos niederknien

Ja, bei Warner wird die Geschichte erzählt. Es dominiert allerdings die Sachs-Perspektive. Es dominiert die Schilderung der inneren Kämpfe von Sachs, der zwischen Tradition und Moderne zu vermitteln versucht, zwischen Begehren und Vernunft. Sachs ist der alternde Witwer, der vor dem finalen Sangeswettbewerb im dritten Akt, bei dem sich Beckmesser lächerlich macht, plötzlich vor seinem eigenen Grab resigniert niederkniet.

Vor diesen Todesahnungen fantasiert Sachs sich aber auch Eva herbei, die er begehrt. Hier gerät die Inszenierung ins Schwärmen, mündet in eine abstrakte Traumlandschaft, in der Mädchen in Weiß Sachs umtanzen. Auch wenn die Inszenierung eher auf der heiteren und Stimmungsbilder erzeugenden Seite steht, wird der widersprüchliche, ambivalente Charakter von Sachs mit all seinen Ressentiments nicht völlig umgangen.

Wie aus dem Cover gefallen

Wenn Sachs sich am Ende zum durch die Rezeption rassistisch kontaminierten Lob auf die deutsche Kultur aufschwingt, halten ihm die Massen Kunstprodukte entgegen. Mit dabei auch Thomas Manns "Doktor Faustus", in dem es um die Verantwortung des Künstlers geht und die – so Mann – Herbeiführung des Nationalsozialismus aus romantisch-idealistischem Denken. Etwas nebulos bleibt die Szene allerdings.

Dass Sachs als widersprüchlicher Charakter differenziert rüberkommt, ist dem phänomenalen Michael Volle zu verdanken. Er entwirft eine psychologisch tiefe und vokal charismatische Studie eines Menschen nahe der Verzweiflung, den ein Wertekonflikt plagt.

Kammerspielartig und doch imposant war das und ging nicht besser, selbiges gilt auch für Wolfgang Koch: Er zeichnet Beckmesser mit vokalen und darstellerischen Mitteln als Möchtegernpopstar, der eine Art lächerlicher Hagen (der Siegfried-Mörder aus der "Ring"-Tetralogie) sein könnte und der sich am Ende in einer Fantasieuniform präsentiert, als wäre er vom Beatles-Album "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" herabgestiegen.

Guter Gesang

Als quasi noblen Salonlöwen präsentiert David Butt Philip den Ritter Walther, wobei er vokal bisweilen an die Grenzen der Belastbarkeit stößt, ohne allerdings viel an Strahlkraft zu verlieren. Fast so souverän und kultiviert wie immer Georg Zeppenfeld als Evas Vater Veith Pogner; durchschlagskräftig Hanna-Elisabeth Müller (als Eva) in den Höhen, in den Tiefen fehlt es ihr aber an Substanz. Sehr komödiantisch und vokal durchdringend Michael Laurenz als David mit dem Violinschlüssel auf der Latzhose.

In Summe eine tolle, detailverliebte Inszenierung (mit guten Meistern und bis auf den Anfang gutem Chor), die maßgeblich vom Orchestergraben lebt. Dirigent Philippe Jordan und das Staatsopernorchester schaffen ein drängendes, sich selbst aufschaukelndes, bisweilen kontrapunktisches Energiefeld, das niemals an Ausgewogenheit einbüßt. Da ist Impulsivität, Akzentuierung, ein elegantes Vorwärtsdrängen abseits des Schwelgens. Poesie kommt eher vom Klang und weniger von der Phrasierung.

Nicht verlängert, aber mit Blumen

Jubel am Ende für Volle und besonders für Philippe Jordan. Da gab es sogar, was bei Dirigenten praktisch nie vorkommt, Blumenspenden. Es war womöglich auch ein demonstrativer Trost dafür, dass Jordan von Staatsoperndirektor Bogdan Roščić vertraglich nicht verlängert wurde.

Ob Jordan, der sich unlängst über das Regietheater beklagt hat, mit dieser Inszenierung glücklicher war als mit jener Barrie Koskys, bei der er in Bayreuth dirigiert hatte? Koskys Deutung führte – wie erwähnt – Wagner in den Gerichtssaal der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, was als extremes, brillantes Regietheater betrachtet werden konnte. Keine Ahnung. Dem Publikum in Wien hat es jedenfalls bis auf kleine Buhs sehr gut gefallen. (Ljubiša Tošić, 5.12.2022)