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Foto: Brescia/Amisano – Teatro alla Scala
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Eröffnungspremiere an der Mailänder Scala – Zaren werden einsam sterben

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Wehe den Völkern, die Götter und Despoten dulden: Mussorgskis „Boris Godunow“ eröffnet die neue Saison der Mailänder Scala als Fanal gegen alle Unterwürfigkeit.

Das Vorspiel zur Eröffnungspremiere der neuen Spielzeit am Teatro alla Scala hat es einmal mehr auf Mailands Straßen gegeben: Blaulicht und Sirenen, Polizei und Armee, Absperrungen, Kontrollen und Platzverweise. Diesmal fand das schon traditionelle Spektakel, das durchaus als unschönes Spiel der Gewalt zwischen Oben und Unten bezeichnet werden könnte, seine Fortsetzung auf der Opernbühne: „Boris Godunow“ war da angesetzt, die auf historische Daten und Fakten basierende Oper von Modest Mussorgski in ihrer „Urfassung“ von 1869, die dieser russische Komponist nach der Tragödie des russischen Dichters Alexander Puschkin verfasst hat. Ein eigenes Libretto zur russischen Geschichte, die sich vielleicht gerade einmal widerspiegelt und somit in schlimmen Variationen real wiederholt?

Die Regie hätte es sich hier so einfach machen können: Die Donald-Trump-Eskapaden vom 6. Januar 2021 in Washington abbilden oder das vom Möchtegern-Zaren Wladimir Putin ausgelöste Kriegsgeschehen gegen die Menschen in der Ukraine in Szene setzen. Deswegen gab es bereits lange vor Spielzeitbeginn die Forderung, wegen des nun schon mehr als neun Monate währenden Angriffskrieges, den Moskau gegen die freie Welt ausgelöst hat, keine russische Oper anzusetzen, keine russische Musik zu spielen – und womöglich keine russischen Interpreten auftreten zu lassen? Dabei gibt es wohl kaum ein entlarvenderes Stück als diese Oper um Zaren, Bojaren und Popen. Intendant Dominique Meyer gab denn auch zu Protokoll, „Boris Godunow“ sei bereits lange vor Kriegsbeginn geplant gewesen und könne gar nicht verschoben oder gar gestrichen werden: „Wir betreiben keine Propaganda für Putin, denn wir unterscheiden zwischen der aktuellen politischen Situation in Russland und einem großen Meisterwerk der Kunstgeschichte.“

Blick in den Kreml des Wahnsinns

Dass es nach all den Schrecknissen der Menschheitsgeschichte heute noch Machthaber gibt, die ihre Herrschaft auf brutale Lügen, Mord und Gewalt gründen, sollte undenkbar sein, ist allerdings vielerorts Realität. Im großrussischen Reich an der Wende zum 17. Jahrhundert war das nicht anders. Godunow hat dieses Barbarentum in bezwingende Musik gesetzt und ein eigenes Libretto verfasst, das in seinen Grundzügen auf Puschkins gleichnamiger Tragödie basiert, der sich wiederum auf historische Hintergründe der sogenannten „Zeit der Wirren“ bezog, als es in den Jahren zwischen 1598 und 1613 fünf Zaren gab. Nicht auszuschließen, dass Moskau eine ähnliche Wirrnis just bevorsteht.

Der dänische Regisseur Kasper Holten hat die vieraktige Oper absolut zeitgemäß in Szene gesetzt, indem er Historie und Gegenwart unaufdringlich miteinander verschmelzen ließ. Ein großes Plus seiner Inszenierung ist die Ausstattung mit dem Bühnenbild von Es Devlin und den Kostümen von Ida Marie Ellekilde. Riesige Landkarten des alten Reiches prägen das Bild, eine gewaltige Schriftenrolle mit Stationen russischer Geschichte spannt sich vom Bühnenboden bis hoch in den Theaterhimmel, ist mit historischen Fakten und Jahreszahlen versehen, mit Zeichnungen von Gesichtern, Figuren und Kämpfen; nach der Pause ist Russlands Karte dann schon ziemlich zerrissen, in Grenzen zerfallen, als wäre auch dies eine Vision für die tatsächlich erwartbare Zukunft. Diesen Bogen aus Geschichte und Aktualität bilden auch die Kostüme ab, denn Massenszenen des Volkes werden beinahe folkloristisch gezeigt, während Boris, der Zar, mitsamt seinem Umfeld erst einmal im historischen Protz agiert, natürlich mit goldener Krone – und schließlich als austauschbarer Schreibtischtäter im schwarzen Anzug einsam verendet. Mit recht einfachen Mitteln wird überzeugend gezeigt, wie die Macht von Diktatoren und Usurpatoren funktioniert, während sie längst zum Scheitern verurteilt ist. Eine Regiearbeit, die zum Mitdenken anregt, man sollte ihr dankbar sein und würde darin am liebsten eine Einladung an alle Möchtegern-Zaren und Kriegstreiber sehen, sich diese Sicht doch zu Herzen zu nehmen.

Denn natürlich offeriert Holten tiefen Einblick in den Kreml des Wahnsinns, wo der Zar von seiner mörderischen Vergangenheit nichts wissen will, sich von duckmäuserischen Hofschranzen umgeben lässt und lange nicht wahrhaben will, dass seine Zeit schon lange abgelaufen ist.

Der russische Bass Ildar Abdrazakow hat den Titelpart absolut überzeugend verkörpert. Womöglich hat er in seiner schon sechsten Scala-Premiere hier sogar seine Glanzrolle gefunden. Er singt und spielt mit Inbrunst, bleibt stets kultiviert, selbst wenn sein Boris längst dem Wahnsinn verfallen ist. Übrigens hat auch er die Stückwahl zu dieser Premiere verfochten und in einem Interview mit dem Corriere della Sera gemeint, gerade in Zeiten wie diesen brauche man mehr und nicht weniger Kunst. Der Sänger bezog sich auf Dostojewski, indem er zuversichtlich betonte, die Welt werde durch Schönheit gerettet.

An seiner Seite Lilly Jørstad und Anna Denisova als zauberhafte Kinder Fjodor und Xenia, in einer stummen Rolle aber auch der ermordete Dmitri, der nicht aus Boris’ Kopf gehen will. Mit Norbert Ernst ist ein so stimmgewaltiger wie intrigant wirkender Fürst Schuiski präsent, mit Alexey Markov ein gewieft potenter Duma-Sekretär und mit Ain Anger ein tiefschwarzer Bass als die Chronik führender Mönch Pimen. Sämtliche Gesangspartien ohne Fehl und Tadel, insbesondere der von Dmitri Golovnin überzeugend dargestellte „falsche“ Dmitri sowie der seine Wahrheit verkündende Gottesnarr, den Jaroslaw Abaimov wehleidig meistert.

Wie an der Scala üblich, bleibt die Personenführung sehr auf den Dirigenten fixiert, was musikalisch natürlich perfekt funktioniert, denn wer den bestens koordinierenden Musikdirektor Riccardo Chailly im Blick hat, fügt sich perfekt in die Gesamtensembles mit prächtigem Chor und Scala-Orchester ein, das in Mussorgskis Klangwelten wunderbar ausgewogen und warm aufgespielt hat.

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