„Eine Aue am Ufer der Schelde bei Antwerpen.“ Den weiten Blick, den Richard Wagner im Libretto seiner romantischen Oper Lohengrin vorsieht, kann man in der Neuinszenierung an der Bayerischen Staatsoper anfangs nicht genießen. Dafür ein paar Büschel Sumpfgras, kleine Tümpellöcher, zwei lindgrüne Bäume auf einer Böschung. Die von der lettischen Bühnenbildnerin Monika Pormale gestaltete Szene wirkt eher wie ein kleines Terrarium, von dicken weißen Wänden eingefasst, auf denen sich Flusswellen spiegeln; das hat Züge eines keimfreien Laboratoriums, in dem eine Versuchsanordnung aufgebaut wird.

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Johanni van Oostrum (Elsa)
© Wilfried Hösl

Nach Wagners Notiz sollen brabantische, sächsische und thüringische Grafen und Edle zu Beginn die Bühne füllen, mit ihren Anliegen auf das Schiedsgericht des deutschen Kaisers Heinrich warten. Der Chor, den der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó auftreten lässt, ist ziemlich uniform in weiße Shirts und graue Leggings oder Jeanshosen gekleidet. Das wirkt bisweilen wie das unentschlossene Herumstehen eines Tennisvereins beim Grillabend; selbst Heinrich, an Stelle einer Krone lässig mit seiner Brille spielend, geht grau in den Creme-Tönen der Menge verloren. Dann entwickeln sich aus der großen Schar aber auch stimulierende Signale und Bewegungen, die die Bedeutung der vielen Stimmen in dieser „Chor-Oper“ unterstreichen, den Chor im gedrungenen Bühnenraum an die Rampe holen, das Spiel spürbar intensivieren. Fragen über Fragen also, und dies in einer Oper, in der das Frageverbot essentiell wird und die Beziehung eines Liebespaares zerbricht.

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Johanni van Oostrum (Elsa) und Klaus Florian Vogt (Lohengrin)
© Wilfried Hösl

Mundruczó, bisher mehr als Film- und Theaterregisseur in Erscheinung getreten, sucht also keinen historischen Rückblick, dafür eine mögliche Sicht in eine neue Zukunft. Er lässt die Handlung in einer posthumanen Welt spielen, in der eine Gruppe von Überlebenden voller Angst und voller Fragen auf Erlösung hofft. Kein Platz für einen Schwan; den Lohengrin sieht er als eine der „provokantesten inhumanen Figuren im gesamten Opernkosmos”. In der Versammlung, die der brabantische Graf Telramund und seine Gattin Ortrud nutzen, die eigentlich in ihrem Schutz stehende Elsa von Brabant anzuklagen, ihren Bruder Herzog Gottfried ermordet zu haben, entscheidet Lohengrin den Zweikampf zu Elsas Gunsten. Für Heinrich wird der furchtlose Ritter zum optimalen Feldherrn im bevorstehenden Kampf gegen das ungarische Heer. Bei so viel Hoffnung wiegt der Preis dafür nicht schwer: das Verbot der schicksalhaften Frage nach „Name und Art“ des Ritters. Da werden die Brabanter glühende Anhänger des Sympathieträgers, der wie ein Messias die Menschen um sich schart; geradezu wie in einer Sekte hängen sie an seinen Lippen, schwenken euphorisch lange Schilfwedel oder rote Fähnchen. So bleibt Wagners Oper voller unauflösbarer Geheimnisse; Mundruczó nennt diese Widersprüchlichkeit den konstitutiven Teil des Werks, der unbedingt erhalten bleiben sollte.

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Lohengrin
© Wilfried Hösl

Sein Hausdebüt feierte François-Xavier Roth, über sein Kölner Gürzenich-Orchester hinaus kaum als Wagner-Dirigent wahrgenommen, mit beeindruckender Prägnanz. Da wird kein schwärmerischer Lohengrin zelebriert; Roth hat mit dem exquisiten Staatsorchester bei aller melodischen Süffigkeit einen eher offenen, fast kühlen, verstandesmäßigen Klang erarbeitet. Man könnte es ein „historisch informiertes“ Musizieren nennen, das weiter von orgiastischen Momenten eines Hector Berlioz inspiriert wirkte, die er tänzerisch agil anfachte. Mit fantastischem Surround-Klang glänzten Trompeten- und Posaunengruppen aus den Logen um das Parkett herum. Ebenso vollmundig überzeugte auch der Staatsopernchor (Einstudierung Tilman Michael) in brillantem Spiel und mustergültiger Diktion.

Klaus Florian Vogt ist 2022 Lohengrin in München. Seine langjährige Rollenerfahrung, zuletzt in Yuval Sharons Bayreuther Inszenierung, ließ in der Intensität seines Auftretens keine Wünsche offen. Seine Stimme zeichnete Kraft ebenso wie Leichtigkeit aus, glühend metallisches Strahlen, vor allem aber ein wunderbar zarter Ansatz, der im Pianissimo gehauchte Töne zu vokalen Luxus-Pralinés machte.

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Klaus Florian Vogt (Lohengrin) und Johanni van Oostrum (Elsa)
© Wilfried Hösl

Keine Elsa, die bei ihren Auftritten „naht“: Johanni van Oostrum ist ein Energiebündel, das sich jedem Zwang widersetzt, das die Last des Tötungsvorwurfs traumatisiert in erregte Aktivität treibt. Eine Einzelkämpferin, die nur langsam Vertrauen aufbaut, sich zögernd auf den rettenden Gralsritter einlässt: die Momente vor der ersten Berührung voll knisternder Hochspannung. Sie ist ganz bei sich, eine Elsa nicht als Rolle, sondern Identifikation. Ihr warm timbrierter Sopran wurde zum perfekten Ausdruck ihres Spiels, mischte sich anrührend mit Vogts vokalem Farbspektrum.

Durch profundes Bassvolumen begeisterte Mika Kares als König Heinrich; in seiner Profession glich er oft mehr einem umsichtigen Manager, der den jovialen Umgang mit seinen Angestellten nicht scheut. Andrè Schuens leuchtender Bariton formte den Heerrufer in intensivem Spiel zur echten Hauptrolle.

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Lohengrin
© Wilfried Hösl

Barocke Elemente im prachtvollen Bühnenbild des zweiten Akts, wenn Elsa auf einem Balkönchen nervös einen Joint raucht und Ortrud sie kalt berechnend in trügerischer Sicherheit wiegen will. In ihrem bewundernswerten Rollendebüt als Ortrud fuhr Anja Kampe schwarz loderndes Stimmvolumen auf, machte die manipulierend teuflische Besessenheit erlebbar, dem unsicheren Gatten Telramund gegenüber, den Johan Reuter auch sängerisch überragend charakterisierte, ebenso wie der kurzzeitig euphorischen Elsa. Die wirkt im geradezu engelhaft sonnenglänzenden, radförmig gefächerten Hochzeitskleid dann fast wie in einer Zwangsjacke.

Am Schluss rast ein riesiger Meteorit in Zeitlupe auf den Schauplatz zu. Auslöschen der alten Ordnung, Paukenschlag eines Neubeginns? Dass manche szenische Sichtweise sich letztlich nicht erschließt, ist schon im original komplexen Handlungskern angelegt. Die musikalische Leistung in der neuen Münchner Einstudierung trägt umso harmonischer über diese Wirren hinweg. Vogt und van Oostrum – die Münchner Staatsoper hat ein neues Traumpaar auf ihrer Wagnerbühne!

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