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On pourge Bébé. Foto: Jean Louis Fernandez.
On pourge Bébé. Foto: Jean Louis Fernandez.
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Nicht gefüllt und leicht zerbrochen – Philippe Boesmans’ letzte Oper „On pourge Bébé“ in Brüssel uraufgeführt

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Es war eine nette Geste der Applausregie: Als alle Protagonisten den wohlverdienten Beifall in der voll besetzten La Monnaie Oper in Brüssel nach der Uraufführung von Philippe Boesmans’ posthum uraufgeführter Oper „On pourge Bébé“ entgegennahmen, erschien im Hintergrund in der Höhe der dort befindlichen Tür, lächelnd der Komponist persönlich und reihte sich sozusagen aus dem Jenseits ein.

Der 1936 geborene Philippe Boesmans, der bekannteste und erfolgreichste Komponist des Landes, verstarb im April. Seine neunte Oper war da zwar schon – notentechnisch gesehen – zu 90 Prozent fertig. Für seinen Schüler Benoît Mernier war es eine Ehrensache, den Rest ganz im Sinne des Komponisten zu vollenden. Für die La Monnaie Oper, für die Boesmans über Jahre der Hauskomponist war, und ihren Intendanten Peter de Caluwe war es ihrerseits eine Selbstverständlichkeit, die Uraufführung durch Richard Brunel (Regie) und Etienne Pluss (Ausstattung) kongenial auf die Bühne zu bringen. 

Das Besondere an dieser letzten Oper des Komponisten, der schon immer eine Vorliebe für literarische Stoffe hatte (zuletzt etwa für die in Aix-en-Provence 2017 uraufgeführte Oper Pinoccio nach Goldoni), ist, dass er sich auf eine Vorlage Georges Feydeaus (1862-1921) eingelassen hat. Also auf eine Art von verrückter Situationskomödie, die vor allem von ihrem atemberaubenden Tempo lebt, bei dem die Pointen nur so hin und herfliegen, als wäre man Zeuge bei einem zu Theater gewordenen Tennismatch. Das große, tragische Parlando beherrschen ja viele, zumal das Publikum bei Opernnovitäten ohnehin auf Katastrophe oder Welträtsel gefasst ist, die sich gemessenen Schrittes entfalten. Für das hier herrschende Tempo gibt Bassem Akiki am Pult des La Monnaie Orchesters genau das richtige Maß vor. Mag gut sein, dass die Musiker durch die Vertrautheit mit Boesmans’ Musiksprache hier einen Vorsprung haben. 

Um eine Feydeau-Vorlage – und sei es in der opernangemessenen Weise der eingedampften Librettoform von Richard Brunel – zur Oper zu machen, braucht es schon ein ziemliches Geschick, damit nicht die Worte über die Musik stolpern – oder umgekehrt. Genau das passiert hier aber nicht – untergehakt galoppieren Komödie und der aus dem Graben aufsteigende originelle Parlandosound dieses flotten Konversationsstückes auf das chaotisch befreiende Finale zu. 

Bei dem wird die unbeantwortete Ausgangsfrage „Wo denn die Hebriden liegen“ noch einmal in den Raum gesellt. Vom Titelhelden. Dem (über)liebevoll von den Eltern Baby genannten siebenjährigen Toto. Um dessen Verdauung beziehungsweise Verstopfung geht es nicht nur im Titel der Oper. Das eine soll gefördert werden, indem das andre beseitigt wird. Mit Abführmittel, das der Junge aber partout nicht nehmen will.

Das man da nebenbei dem Feydeau heute eine Portion Freund unterjubeln kann, versteht sich von selbst. Im Programmheft werden die entsprechenden Einlassungen des Vaters der Psychoanalyse ausgegraben. Brunel und Pluss bleiben aber hübsch bei der Sache. Vergegenwärtigen  zwar Personal und Umgebung in die Jogginganzug-Gegenwart überforderter Helikoptereltern von heute, lassen dabei auch einen Seitenverdacht von Münchhausen-Syndrom auf die sich selbst überfordernde Mutter (großartig: Sopranistin Jodie Davos) fallen, schenken aber auch der Haupttätigkeit des Familienvaters das gebührende Maß an Aufmerksamkeit. 

Dieser Bastien Follavoine (Jean-Sébastien Bou würzt vokale und darstellerische Präsenz mit einer Portion komödiantischem Eifer) ist nämlich Porzellanfabrikant und will seine Nachttöpfe (im Vergleich zu anderen Materialien viel hygienischer, meint er) und obendrein unzerbrechlich (behauptet er dem potenziellen Besteller der französischen Armee gegenüber) an den Mann, sprich, den in Uniform auftauchenden Aristide Chouilloux bringen. Denzil Delaere verkörpert ihn mit verhaltener Komik in Uniform und auch mal ohne Hosen. Es hat schon aparten Witz, wenn Boesmans bei der Präsentation des Nachgeschirrs hemmungslos Wagners Parsifal anklingen lässt. Musikalischen Witz hat es auch, wenn die Behauptung der Unzerbrechlichkeit der Nachttöpfe mit dem Werfen zweier Probetöpfe zu Bruch geht. Diesen geschäftlichen Bemühungen des Hausherrn und Prozellanfabrikanten vertragen sich aber in keiner Weise mit den Bemühungen seiner Frau Julie, ein privat genutztes Exemplar der Nachttöpfe mit dem vom Sohn stammenden Inhalt zu füllen. Diese Konstellation nimmt Fahrt in Richtung einer finalen Katastrophe auf, als der Junior die Herren so manipuliert, dass sie das Abführmittel selbst trinken. Und dabei auch noch das Verhältnis der – warum auch immer samt ihres Liebhabers (Jérôme Varnier) prompt auftauchenden – Ehefrau Chouillouxs (großer Auftritt: Sophie Pondjiclis), auffliegt. Da hat sich der Bühnenraum, der als Kinderzimmer begann und dann weitete, wieder verengt.  

Wie das heutzutage so ist: der Topf bleibt leer, der Knabe besteht auf seiner Antwort in Sachen Hebriden und die Eltern sind der Verzweiflung nahe, so dass die Mutter am Ende – ganz und gar inkorrekt – einfach nur noch „Merde! Merde! Merde!“ rufen kann. Und sich alle Eltern im Publikum darüber freuen, dass ihr Nachwuchs nicht an Verstopfung leidet. Soweit sie wissen jedenfalls. 

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