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Opern-Kritik: Opéra National de Lorraine – Tristan und Isolde

Schopenhauer lernt fliegen

(Nancy, 29.1.2023) Der portugiesische Operndebütant Tiago Rodrigues wagt Wagner mit den strengen Mitteln des Brecht-Theaters – und gewinnt. Musikalisch feiert eine ganz neue Riege an Wagnersängern in Lothringen einen Triumph.

vonPeter Krause,

Richard Wagner und Bertolt Brecht vertragen sich nicht. Auf den ersten Blick jedenfalls. Der Bayreuther Meister zielte auf die ganzheitliche Überwältigung seines Publikums mit den geballten Mitteln des Gesamtkunstwerks. Der linke Dichter setzte auf die kritische Distanzierung des Epischen Theaters, in dem die Einzelelemente einer Aufführung deutlich getrennt voneinander wahrnehmbar werden, in dem statt naturalistischer Illusion und emotionaler Identifizierung mit den Figuren der intellektuelle Nachvollzug des Geschehens und im Nachgang die gesellschaftliche Veränderung der Verhältnisse angestrebt werden. Immerhin letztere schrieb sich auch der Schöpfer von „Tristan und Isolde“ auf die Fahnen, jene weithin handlungsfreie „Handlung in drei Aufzügen“, die zwar bis heute ihre narkotische Wirkung nicht verfehlt, als sein kühnstes und musikalisch modernstes Werk allerdings auch weitaus epischer denn dramatischer gebaut ist. Immer wieder haben gerade die Regisseure aus der Brecht-Schule diese Oper auf ihre Weise grandios geknackt: Ruth Berghaus in Hamburg oder Heiner Müller in Bayreuth. In diese ehrenvolle Ahnengalerie wird man einst vielleicht auch Tiago Rodrigues einreihen. Der portugiesische Schauspieler, Dramaturg, Regisseur und aktuelle Direktor des Festivals d‘Avignon inszenierte nun an der Opéra national de Lorraine in Nancy seine erste Oper überhaupt und wagte so viel Brechtianische Brechung, wie sie wohl noch nie bei einem Wagnerwerk gewagt wurde.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“

Wagner mit Gebrauchsanleitung und poetischer Ironie

Dazu hat der Künstler eine Ebene hinzuerfunden, die Poesie mit Ironie verbindet und sich eigenständig den Schichten der Oper gegenüberstellt: einen gedichtähnlichen Text, der jeweils die Grundgedanken einer Szene zusammenfasst und als solcher die sonst üblichen Übertexte ersetzt. Eine Tänzerin und ein Tänzer als Dopplungen des titelgebenden Liebespaars bringen die diversen Textzeilen auf weißen Tafeln in den Abend ein. Gleichsam als stummes Vorspiel auf dem Theater zum (mit Sehnsucht erwarteten sehnsüchtigen, von Wagner komponierten) Vorspiel treten Sofia Dias und Vítor Roriz auf. Sie erklären uns mit ihren Texttafeln, dass wir uns in einem Archiv befänden, dessen Gedächtnis uns nun in allerhand imaginäre und reale, in erträumte und existente Welten entführen würde. Viele Worte in deutscher Sprache würden dazu nötig werden, und viel Zeit und dessen Verschwendung sei dazu nötig. Das wissen Wagnerianer natürlich, und solche Menschen, die es vielleicht noch werden wollen, sind mit dieser launigen Gebrauchsanleitung immerhin vorgewarnt. Und dem in der Mehrheit französischen Publikum sind die verdichteten Worte des Regisseurs eine Hilfe, sich im Dickicht der (Vor-)Geschichte zurechtzufinden. Wer sich als deutscher Rezensent freilich zu sehr auf diese (ergänzende) Ebene einlässt, empfindet sie zunächst als didaktisch. Ja, die Didaktik des Konzepts entfernt uns von der Erotik des Stücks. Doch wir lernen, uns darauf einzustellen und fokussieren die eigene Wahrnehmung nun mehr auf die famosen Sänger, dann auch auf das Orchester der Opéra national de Lorraine, das seinen (hier keineswegs zum Repertoire gehörenden) Wagner in den Übergängen geschmeidig, flüssig und oft verblüffend pianissimozart angeht. Wenn der Blick dann wieder auf die Zutat des Regisseurs wandert, entdeckt er mitunter witzige Volten und Wortspiele: Durchweg inflationär wird zumal eine weiße Platte mit der Bezeichnung für Tristan als „l’homme triste“ hochgehalten. Ja, dem leidenden Mann widmet Wagner eben besondere Aufmerksamkeit. Den Seitenhieb der Inszenierung kann der Meister sich gefallen lassen.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“

Didaktischer Eros und Thanatos

Doch Tiago Rodrigues dekonstruiert oder desavouiert Wagner nicht. Er übersetzt ihn, weist immer auch darauf hin, wo er uns nah ist. Für die mit allerhand Schopenhauer-Anklängen vertiefte Transzendierung der Liebe von Tristan und Isolde findet er die schöne Metapher des Fliegens. Isoldes Liebestod-Ausflug in „in des Weltatems Wehendem All“ dürfte ja kaum etwas anderes meinen. Wer dann von der Inszenierung doch einen gewissen Rest-Realismus erwartet hatte (die Buhs für den Regisseur im Schlussapplaus legen dies nahe), wird indes enttäuscht. Denn auch die Requisiten fehlen – zumal die Schale, die Liebes-, respektive Todestrank enthält und Tristans Schwert fehlen. Ersetzt werden sie konsequent mit den Mitteln des Brecht-Theaters: Melot bringt Tristan seine tödliche Wunde eben mit einer Texttafel bei. Brangäne vertauscht keine Fläschchen, sondern Tafeln, die auf Französisch mit „Liebestrank“ und „Todestrank“ beschrieben sind: Episches Theater. Dank der Sensibilität, mit der Rodrigues seinen Ansatz durchzieht, verkommt er nicht zur Masche. Denn Tänzerpaar und Sängerpaar nähern sich auch an, interagieren. Das Brecht-Paar lauscht zu Beginn des Liebesduetts uns dessen Lobpreis der Nacht zunächst ergriffen den Sängern. Die Kunst der Variation des in der Tat dominanten Mittels ist ausgeprägt und wirkt im Laufe des Abends immer mehr sinnstiftend. Auch die Bühne von Fernando Ribeiro verändert sich, fehlen doch die einmal gezeigten Texttafeln fortan in den Nischen des auf drei Ebenen gestaffelten Archivs. Wenn diese Nischen leerstehen, sehen sie wie Grabkammern aus – ein treffendes Zeichen für Wagners Zusammenspiel von Liebe und Tod, von Amour und Mort.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“

Minimalistische Strenge der Szene und ein neuer lyrischer Wagnergesang

Für die Sänger, die bekanntlich bei „Tristan und Isolde“ durchaus Übermenschliches zu leisten haben, hat die Inszenierung eindeutige Vorteile. Sie sind zu keinerlei szenischem Aktionismus verdammt, sondern können die fünf Wagnerstunden vergleichsweise statisch angehen. Mimisch sind sie voll bei der Sache, ihr Kontakt untereinander ist von minimalistischer Strenge. Wo die Texte des Regisseurs eine emotionale Distanzierung bewirken, führen die Sänger wiederum ganz direkt zur Botschaft der Musik, die an diesem eindrucksvollen Abend zwar nicht plump überwältigt, aber doch enorm berührt. Das liegt auch der enormen Qualität des Ensembles, das in großen Teilen mit seinen Partien debütiert. Fraglos an der Spitze steht Dorothea Röschmann als Isolde. War die Norddeutsche über Jahrzehnte eine der führenden Mozart-Ssängerinnen, feiert sie mit diesem Fachwechsel einen Triumph. Ihre Isolde hat einerseits den mädchenhaften Glanz und die berückend schönen Töne einer Lyrischen, andererseits nunmehr das satte, aber nie überstrapazierte mittlere und tiefe Register der Bruststimme. Da denkt man etwa an die Aufnahme mit Margret Price unter Carlos Kleiber zurück. Ihre Textbehandlung ist subtil und wunderbar ausgearbeitet. Man versteht wirklich einmal jedes Wort, was bei schweren, hochdramatischen Wagnersopranen allzu selten der Fall ist, weil zu viel Kraft auf die imposante vokale Klangentfaltung verwandt wird. Als ihr Tristan debütiert Samuel Sakker. Der im Zwischenfach beheimatete Tenor teilt sich die Strapazen der stimmmörderischen Partie überaus klug ein. In „seinem“ dritten Aufzug sitzen die heldischen Ausbrüche der hohen As alle. Mit Leo Hussain am Pult hat er einen einfühlsamen Partner, der ohnehin demonstriert, dass die Partitur auch viele leise Passagen enthält, die es nur auszukosten gilt. Ein Ereignis auch die mittleren Partien: der erdenwarm pastose Mezzo von Aude Extremo als Brangäne oder der Prachtbass von Jongmin Park als Marke, dessen Klage auch von enormer Empathie und Liebesfähigkeit des betrogenen Ehemanns steht, der seinen Neffen Tristan doch sehr gern verstehen würde.

Auf nach Lothringen in das Opernhaus der Entdeckungen

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“

Einmal mehr beweist Frankreichs kleinste Staatsoper also ihr fantastisches Potenzial. Die Opéra national de Lorraine ist unter ihrem Intendanten Matthieu Dussouillez eine genuines Entdeckerhaus – in Regiedingen wie in den Sängerbesetzungen. So viel Mut wünschte man sich auch an den großen Häusern, die sich indes zu oft auf das Shoppen etablierter Namen kaprizieren, die oftmals dann nicht das halten, was sie versprechen. In Nancy indes kommt man auch bei diesem Besuch aus dem Staunen nicht heraus. Ja, genau so geht Wagner.

Opéra national de Lorraine
Wagner: Tristan und Isolde

Leo Hussain (Leitung), Tiago Rodrigues (Regie), Fernando Ribeiro (Bühne), José António Tenente (Bühne), Rui Monteiro (Licht), Simon Hatab (Dramaturgie), Samuel Sakker, Dorothea Röschmann, Aude Extremo, Scott Hendricks, Jongmin Park, Peter Brathwaite, Alexander Robin Baker, Yong Kim, Sofia Dias, Vítor Roriz, Orchester und Chor der Opéra national de Lorraine

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