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‹Intolleranza 1960› – Szenische Handlung in zwei Teilen von Luigi Nono am Theater Basel. Photo: Ingo Höhn.
‹Intolleranza 1960› – Szenische Handlung in zwei Teilen von Luigi Nono am Theater Basel. Photo: Ingo Höhn.
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Zeuge von Ungerechtigkeit und Gewalt – Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ am Theater Basel

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Die Stühle im Zuschauerraum des Basler Theaters sind abgedeckt. Das Premierenpublikum steht etwas verloren in den Gängen. Von Ferne ertönt ein vielstimmiger Chor. „Lebendig ist, wer wach bleibt/ sich den anderen schenkt/das Bessere hingibt/niemals rechnet“, ist auf dem Eisernen Vorhang zu lesen, der langsam hochgefahren wird. Dann betritt man, von stummen Begleitern geführt, die Bühne. Einige Stehleitern sind im Raum verteilt, Menschen liegen wie tot am Boden. Man verteilt sich im Raum, setzt sich auf Stühle und weiß bald nicht mehr, wer Akteur ist und wer Zuschauer. Dann fährt die stählerne Wand wieder nach unten. Und man ist eingeschlossen im Theaterraum – und mitten im Geschehen.  

Luigi Nono hat sein 1961 in Venedig uraufgeführtes erstes Bühnenwerk „Intolleranza 1960“ nicht Oper genannt, sondern „Azione Scenica“: szenische Handlung. Mit Chören, Projektionen und Lautsprechern wollte der Komponist die Distanz zwischen Bühne und Publikum aufheben und den Zuschauer zu einer Stellungnahme aktivieren. Intendant Benedikt von Peter, der seinen Vertrag am Theater Basel gerade bis 2027 verlängert hat, geht in seiner Inszenierung noch weiter (Choreographie: Carla vom Hoff, Bühne: Katrin Wittig, Kostüme: Geraldine Arnold). Die ursprünglich im Jahr 2010 für das Staatstheater Hannover entstandene Produktion schafft beklemmende, aber auch gemeinschaftsstiftende Nähe. Man wird Zeuge von Ungerechtigkeit und Gewalt. Und ist umgeben von Klängen, wenn direkt neben einem ein Chorsänger die Stimme erhebt oder das Sinfonieorchester Basel (Leitung: Stefan Klingele) unsichtbar von der Unterbühne und der Galerie aus mit schneidenden Dissonanzen der Blechbläser das Geschehen forciert.

In der Oper geht es laut Komponist um die „Intoleranz und das Wachsen des Bewusstseins und des Widerstands gegen sie“. Die einzelnen Szenen nehmen Bezug auf reale Ereignisse – das Grubenunglück im belgischen Marcinelles aus dem Jahr 1956, die Friedensdemonstrationen, den Algerienkrieg, die Überschwemmungen in der Po-Ebene. Peter Tsantis ist der Emigrante, der nach der Katastrophe sein Bergwerk verlässt und in sein Heimatland zurückgeht. Seine Frau – Jasmin Etezadzadeh spielt und singt die Partie mit beängstigender Intensität – verflucht ihn dafür. Auf dem Weg nach Hause gelangt der Flüchtling mitten in eine erregte Menschenmenge, die „Nie wieder Krieg“ und „Down with discrimination“ skandiert. Der auf der ganzen Bühne verteilte Chor des Basler Theaters (Leitung: Michael Clark) trägt und führt den Abend gemeinsam mit den Statisten. In den Pausen zwischen den Szenen werden die Stehleitern verschoben und Stühle umgeräumt. Man wird berührt, geleitet und platziert. Der expressive Chorgesang, der beim Chor der Gefolterten auch zum erschütternden Schrei werden kann, verwandelt Nonos komplexe Musik in verdichtete Emotion. Es lässt einen nicht kalt, wenn direkt vor den Füßen Artyom Wasnetsov als blutverschmierter Gefolterter liegt und sich mit seinem mächtigen Bass vom Leben verabschiedet oder wenn Kyu Choi (Ein Algerier) mit durchdringender Tenorstimme in unmittelbarer Nähe Ungerechtigkeiten anklagt. Es entsteht Empathie mit den Figuren. Musiktheater als gemeinschaftsstiftende Erfahrung.

Das Sinfonieorchester Basel entfaltet eine große Bandbreite an Klängen, ist präzise in den Klangschichtungen und schafft Atmosphäre, wenn sich die Partitur ausdünnt und Intimität entsteht wie in der zweiten Szene des zweiten Teils. Hier liegt man auf Decken und schaut in den Schnürboden. Aus dem Off singt Inna Fedorii in hoher Sopranlage von der Sehnsucht nach Liebe. Für einen Moment erschafft die neue Gefährtin des Flüchtlings eine Utopie. Dann ertönt zu rhythmisch akzentuierten Orchesterklängen der Chor der Revolte – und auch die Ehefrau sorgt nochmals für emotionale Zuspitzungen. Am Ende stürzt Wasser die Bühnenrückwand herunter. Trostlosigkeit macht sich breit im Überschwemmungsgebiet. Aber man hält sich aneinander fest in der Katastrophe. Zum finalen Chor sitzt das Publikum im Zuschauerraum des Theaters vor dem Eisernen Vorhang und hört die mahnenden Klänge des Brecht-Gedichtes „An die Nachgeborenen“ (1939) aus dem Off: „Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut / in der wir untergegangen sind / Gedenkt / Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht / Auch der finsteren Zeit / Der ihr entronnen seid.“

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