„Werther“ am Gärtnerplatztheater in München – Intime Briefe

Gärtnerplatztheater/WERTHER/Daniel Gutmann (Albert), Lucian Krasznec (Werther)/Foto © Jean-Marc Turmes

Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werther ist omnipräsent in Herbert Föttingers Neuinszenierung von Jules Massenets Oper Werther am Gärtnerplatztheater in München. Zu einer Deutschstunde wird der Abend trotzdem nicht. Vielmehr verstärken Goethes Texte noch die emotionale Wirkung von Massenets Kompositionen. Die fantastische, menschliche Schicksale betonende Personenregie Föttingers und eine grandiose Besetzung tun ihr Übriges – am Ende bleibt kein Auge trocken. (Rezension der Premiere vom 16.02.2023)

 

Dass Tenöre selbst im Sterben noch so schön singen können! Man hört Lucian Krasznec im vierten Akt von Jules Massenets Werther nicht an, dass er die alles andere als leichte Partie schon seit knapp zweieinhalb Stunden singt. Tatsächlich ist er den Abend über sogar vokal stärker geworden. Ganz am Anfang, bei Werthers erster schicksalhafter Begegnung, klingt er doch noch ein bisschen nasal und könnte seinen hohen Tönen mehr Raum geben, spätestens nach der Pause aber, eigentlich schon im zweiten Akt, sitzt die Stimme. Von da an changiert Krasznec fantastisch zwischen wunderschönem Piano für die zarten Gefühle der angebeteten Charlotte gegenüber und großen emotionalen Ausbrüchen – für beides wirkt seine Stimme gleichermaßen wie gemacht. Sophie Rennert als Charlotte steht ihrem Partner in nichts nach. Nicht nur ist sie eine fantastische Schauspielerin, sondern schon allein stimmlich gelingt es ihr, Charlottes inneren Konflikt zwischen der Liebe zu Werther einerseits und ihrem Pflichtbewusstsein in der Rolle der Tochter, Schwester und Ehefrau andererseits darzustellen. Gleichermaßen meistert sie verletzlich-traurige und kraftvoll-wütende Passagen. Beide Hauptdarsteller fesseln und das hochemotionale Finale zwischen den beiden wird zu einem Höhepunkt des Abends.

Gärtnerplatztheater/WERTHER/Daniel Gutmann (Albert), Ilia Staple (Sophie), Lucian Krasznec (Werther)/Foto© Jean-Marc Turmes

Aber alles der Reihe nach. Von Anfang an wird deutlich, dass sich Regisseur Herbert Föttinger nicht nur mit Massenets Oper Werther, sondern auch mit der literarischen Vorlage, Johann Wolfgang von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther intensiv auseinandergesetzt hat. Während des Orchestervorspiels zum ersten Akt wird der erste Brief aus diesem Buch auf den schwarzen Vorhang projiziert. Natürlich stark gekürzt, um das Publikum nicht bei den ersten Tönen schon mit einem seitenlangen Text zu überfordern, der gute Werther fasst sich ja bei aller Liebe nicht gern kurz. Aber der Auszug reicht aus, um eine knappe Vorgeschichte zu den Ereignissen der Oper zu geben, die bei Massenet ja sonst kaum zur Geltung kommt. Auch die anderen drei Akte werden durch thematisch passende Briefe eröffnet und die Handlung wird so durch auf der Bühne (noch) nicht gezeigte Anekdoten aus der Geschichte Lotte und Werthers ergänzt. Zum Beispiel erfährt man schon vor dem zweiten Akt in einem Brief von jenem Scherenschnitt, den Werther von Lotte angefertigt hat und den er nicht von der Wand nehmen will, weil Albert sein Versprechen gebrochen und ihn nicht von seiner Hochzeit mit Charlotte unterrichtet hat. Im vierten Akt ist der Scherenschnitt dann auch im Bühnenbild verarbeitet. Es sind Details, die man zwar sonst in der Handlung von Massenets Oper nicht unbedingt vermisst, dass Föttinger sie einbaut, schadet aber auf jeden Fall nicht. Die Geschichte wird dadurch noch dichter und spannender, und noch tragischer, als sie ohnehin schon ist.

Vor allem aber stimmen die Briefe thematisch auf die Handlung des nächsten Aktes ein, indem sie Werthers Gemütszustand ankündigen. Im ersten Brief zeigt sich Werther noch voller Hoffnung auf ein glücklicheres Leben – ideale Voraussetzungen für die erste Begegnung mit Charlotte. Föttinger gestaltet dieses Treffen verspielt-unschuldig. Im zweiten Akt, dem Scherenschnitt-Akt, zeigt sich Werthers Abkapselung von der Realität, wohl in einem Versuch, der Wirklichkeit auszuweichen. Werther wirkt da, als wolle er die Menschen um sich herum gar nicht wahrnehmen. Wenn sich ihm etwas aufdrängt, wie etwa die unschuldigen Flirtversuche von Charlottes kleiner Schwester Sophie, reagiert er genervt. Im dritten Akt ist Werther dann zunehmend verzweifelt, im vierten schließlich völlig hoffnungslos, auf der Bühne grenzt sein Verhalten da schon an Wahnsinn. So hat Goethe die Figur angelegt, so haben Massenets Librettisten Édouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann sie verarbeitet, und so hat Massenet sie letzten Endes vertont. Der vierte Akt wird, wie könnte es anders sein, durch Werthers Abschiedsbrief eröffnet. Am Gärtnerplatztheater ist er überschrieben mit „vor zwölfe“, 1774 heißt es bei Goethe eigentlich „nach eilfe“ (im 18. Jahrhundert mit i), aber das macht für die Handlung natürlich keinen Unterschied. Man weiß, was als nächstes kommt.

Während durch die Briefe ein Bezug zur literarischen Vorlage der Oper hergestellt wird, schlagen Kostüme und Bühnenbild den Bogen zur Zeit der Uraufführung von Werther, dem späten 19. Jahrhundert. Alfred Mayerhofer kleidet die Figuren in an die Mode dieser Zeit angelehnte Kostüme, aber auch mit vielen Inspirationen aus der Gegenwart. Ganz ohne Anspielungen an Goethes Werther kommen die Kostüme aber auch nicht aus. Wie in Goethes Roman trägt Charlotte bei ihrer ersten Begegnung mit Werther Rosa. Auf den ikonischen blauen Frack Werthers, nach dem Erscheinen von Die Leiden des jungen Werther in den 1770er Jahren wohl das beliebteste Herrenmodenstück Europas, verzichtet Mayerhofer, auf der Bühne ist aber auch so schon genug Blau – Bis auf Werthers Zimmer im vierten Akt sind die Bühnenbilder Walther Vogelweiders sämtlich in dunklen Blautönen gehalten. Ein bisschen eintönig wirkt das mit der Zeit schon. Aber die Bühnenbilder erzählen Geschichten. Sie zeigen die Figuren, die in den auf der Bühne abgebildeten Räumen wohnen. Besonders auffällig ist der Kontrast zwischen Werthers unordentlicher Bude im vierten Akt und dem Haus des Amtmanns: Zwischen den dunkelblauen Wänden herrscht eine fast schon übertriebene Ordnung. Das passt zu Charlottes Vater, den Levente Páll – mit weicher, aber doch autoritärer Bassstimme – als einen strengen, aber doch durchsetzungsschwachen Pedanten spielt: Er ist der Herr im Haus, die jungen Kinder aber bekommt er nicht unter Kontrolle, diese singen erst zu seiner Zufriedenheit, als die zweitälteste Tochter, Sophie, hinter dem Vater stehend mitdirigiert.

Gärtnerplatztheater/WERTHER/Lucian Krasznec (Werther), Sophie Rennert (Charlotte)/Foto
© Jean-Marc Turmes

Wie viel Raum Föttinger in seiner Inszenierung den Figuren gibt, ist sowieso faszinierend. Der Abend ist geprägt von großen Emotionen, die daher rühren, dass sich auf der Bühne menschliche Schicksale ganz frei entfalten können. Da ist zum Beispiel Sophie, die nach Charlottes Hochzeit die Mutterrolle im Haus des Amtmanns übernehmen muss. Symbolisch trägt sie im zweiten Akt dann auch deren rosa Kleid. Weil sie eben doch deutlich jünger ist als ihre große Schwester, schwankt sie den ganzen Abend zwischen erwachsen tun und Kind sein, was Ilia Staple sehr nachvollziehbar spielt und singt. Auch Albert, Charlottes Verlobter und späterer Ehemann, kommt besonders gut zur Geltung. In Werthers Augen ist er natürlich der Bösewicht, Föttinger zeigt seine menschliche Seite. Man sieht ihn nicht durch Werthers Augen, man sieht einen Mann, der sich drei Akte lang bemüht, Charlotte ein guter Ehemann zu sein, und nebenbei auch noch versucht, sich um das Trübsal blasende Anhängsel Werther zu kümmern. Man sieht aber auch, wie er zunehmend überfordert damit ist, wie seine Frau ihm Stück für Stück abhandenkommt, und wie er Stück für Stück erkaltet. Es wird deutlich, dass eben nicht nur Werther und Charlotte, sondern auch er unter dieser verhängnisvollen Ménage à trois leiden. Bariton Daniel Gutmann macht diese Charakterwandlung nicht nur sichtbar, sondern auch hörbar. Auf der einen Seite sind da sanfte Töne für die weniger leidenschaftliche als zärtliche Zuneigung zu Charlotte – ganz anders als Werthers überbordende Gefühle, im dritten Akt darf Albert aber auch einmal wütend lospoltern. Beidem hört man gern zu, beides ist ungetrübt menschlich.

Im dritten Akt greift Herbert Föttinger dann doch etwas zu tief in die Drama-Kiste. Dass Werther vor Charlotte seine begonnene Ossian-Übersetzung in die Luft wirft, wirkt ein wenig künstlich, es ist eine zu große Geste, für die sonst auf subtile Zwischenmenschlichkeit bauende Inszenierung. Auch, dass sich Charlotte und Werther während ihres Liebes(ein)geständnis direkt gegenseitig ausziehen und Werther schließlich halb nackt in Charlottes Wohnzimmer sitzt, ist vielleicht etwas zu viel. Die Beziehung von Werther und Charlotte ist textlich und musikalisch schon so emotional gestaltet, auch sind die Rollen der beiden mit so starken Schauspielern besetzt – das zusätzliche Drama wäre eigentlich nicht nötig. Noch dazu sorgt es für einen unfreiwillig komischen Moment, als Albert auftritt und zwischen den auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücken ganz nüchtern feststellt, dass man Werther hat zurückkommen sehen – vereinzelt wird im Publikum tatsächlich gelacht. Vielleicht ja auch aus Mitleid mit Albert.

Ganz ohne übertriebene Dramatik oder Kitsch gelingt das Finale dann absolut herzzerreißend. Auch ohne Werther zu kennen, weiß man anhand der letzten drei Akte und natürlich des auf den Vorhang projizierten Abschiedsbrief, was passieren wird. Werther sieht man in dieser Szene zunächst nicht, das Bühnenbild spricht für sich. In Werthers Zimmer ist eine ganze Ecke des Raumes ist seiner krankhaften Obsession mit Charlotte gewidmet: Da hängen ihre Briefe, in der Mitte der Scherenschnitt ihres Gesichts. Erst Charlotte, die gerade noch rechtzeitig und doch auf tragische Weise zu spät kommt, bringt Werther ins Sichtfeld des Publikums. Einige Augenblicke bemüht sie sich noch, ihn zu retten, sie bringt ihm Wasser, ein Handtuch, um die Blutung zu stillen, sie will sogar Hilfe holen. Als sie dann begreift, dass es zu spät ist, sinkt sie an seiner Seite zu Boden. Teilweise geht Sophie Rennerts Gesang an dieser Stelle in Schluchzen unter, was aber genau richtig ist. Im Publikum wird mitgeweint. Halb verdeckt tritt an der Stelle, an der Werther am Anfang der Szene lag, Albert auf und bleibt reglos sitzen, wie eine stumme Erinnerung, dass auch er im Laufe dieser Geschichte viel verloren hat. Es ist der ideale Abschluss für eine emotional so aufwühlende, aber doch wunderschöne Inszenierung.

Nicht nur szenisch, auch musikalisch sind es Höchstleistungen, die an diesem Abend im Gärtnerplatztheater präsentiert werden. Bis in die kleinsten Rollen ist die Premiere herausragend besetzt – Caspar Krieger als Schmidt und Timos Sirlantzis als Johann, und auch der Kinderchor macht seine Sache wunderbar. Vor allem fasziniert aber das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Chefdirigent Anthony Bramall entlockt den Musikern einen ausdifferenzierten, durchhörbaren Klang, der alle emotionalen Feinheiten transportiert. Von der ausgelassen tobenden Kinderschar auf der Bühne, zur Verliebtheit Werthers, bis zur tiefen Trauer – was auf der Bühne passiert gewinnt durch das Orchester noch einmal an Emotion. Auch die Orchestervorspiele zu allen vier Akten sind ein Erlebnis. Am besten funktioniert aber das Zusammenspiel mit Sophie Rennerts Charlotte und Lucian Krasznecs Werther. Es ist wohl nicht nur, aber auch, Herbert Föttingers Regie zu verdanken, dass Teile des Publikums schon vor dem vierten Akt ihre Taschentücher zücken. Ein rundum gelungener Opernabend.

 

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