„Daphne“ von Strauss in Berlin :
Ein Mythos wird schockgefrostet

Von Clemens Haustein
Lesezeit: 4 Min.
Möchte eins sein mit den Elementen: Daphne (Vera-Lotte Boecker).
Kein Griechenland, nirgends: An der Berliner Staatsoper unter den Linden lässt es Romeo Castellucci in Richard Strauss’ „Daphne“ tüchtig schneien. Vera-Lotte Boecker in der Titelrolle überstrahlt dabei die Szene stimmlich.

Schnee, Schnee, nichts als Schnee. Es rieselt und rieselt, auf dem Bühnenboden liegt es schon knöcheltief; im Orchestergraben sieht man weiße Flocken leuchten auf der schwarzen Kleidung der Musiker. Ansonsten Düsternis. Allenfalls ein abendliches Glimmen lässt sich am Horizont ausmachen hin und wieder. Dann leuchtet der Nebel, der die Bühne durchzieht, in endzeitlichem Gelborange. Die Darsteller sind in dicken Daunenjacken unterwegs, schwere Schneestiefel an den Füßen, Hirten sollen es ja eigentlich sein. Aber was hüten sie in dieser Polarwüste? Rentiere? Schneefüchse?

Maximale klimatische Entfernung ist die Devise für den Regisseur Romeo Castellucci, der an der Staatsoper nun Richard Strauss’ späte Oper „Daphne“ inszenierte. Griechenland, der Ort der Handlung, ist bei Castellucci schockgefrostet, wenn es sich denn überhaupt noch um Griechenland handeln soll. Ein halb zerbrochener Fries wie von einem verfallenen griechischen Tempel taucht später aus dem Schnee auf, und Daphne kuschelt im Schnee liegend mit einem Marmortorso, Bruchstücke einer Zivilisation, die untergegangen scheint. Herkunft und Sinn bleiben unergründlich. Wo kommen die Steine her? Warum sind sie da? Wo Strauss und sein Librettist Joseph Gregor antike Mythen und deren moderne Interpretation eng miteinander verflechten, erzeugt Castellucci, der in Berlin den kompletten Auftritt mit Bühnenbild, Kostümen und Licht verantwortet, eine Anmutung existenzieller Fremdheit und Beziehungslosigkeit. Dass er damit eine beherrschende Empfindung Daphnes zum Bild gerinnen lässt, gehört zu den Stärken seines Ansatzes.

Das soziale Umfeld, mit dessen Erwartungen und Ansprüchen Daphne nichts anfangen kann: Mit der eisigen Umgebung bekommt der Betrachter das alles vorgeführt bis zur quasikörperlichen Wahrnehmung. Daphnes Nähe zur Natur im Gegensatz dazu: Auch das tritt nachfühlbar ins Bild, wenn sie als Einzige der Kälte trotzen kann. Im Verlangen, den Elementen möglichst nahe zu sein, beginnt sie bald, sich zu entkleiden bis auf Hemd und Hose. Bildkräftig ist das für den Moment, auf lange Sicht herrscht aber bald Ödnis, die nicht mal eine Schneeballschlacht zu Dionysos’ Ehren aufhellen kann. Es schneit und schneit, und wie zur finalen Bestätigung senkt sich schließlich eine riesige Tafel auf die Bühne herab mit dem Titelblatt von T. S. Eliots „The Waste Land“, veröffentlicht 1922 (sechzehn Jahre vor der Uraufführung der Daphne an der Semperoper in Dresden). Im öden Land der Moderne ist kein Platz mehr für den Mythos, so wohl die eiskalte, fatalistische Botschaft.

Richard Strauss setzte der Diagnose damals eine Musik der Lebendigkeit entgegen. Zwar befinden sich auch in der „Daphne“, deren Libretto Strauss tatkräftig mitgestaltete, die alten Götter auf dem absteigenden Ast. Apollo etwa verliert seine Reinheit durch artfremd dionysisches Verhalten: Er stellt Daphne nach und tötet schließlich aus Eifersucht seinen menschlichen Nebenbuhler Leukippos. Der natürliche Puls von Werden und Vergehen, von Wandlung und Verwandlung ist bei Strauss aber intakt wie eh und je. Und er nimmt sich in der „Daphne“ so natürlich aus wie in wenigen seiner anderen Werke. Scheinbar intuitiv entwickelt die Musik ihre Formen, in Gang gesetzt durch den bukolischen Beginn mit seinem reinen Holzbläsersatz (auch eine Bassettklarinette mit ihrem schnurrenden Klang ist als Exotikum mit dabei). Es sprießt und blüht, atmet und weht, und weil die Handlung zahlreiche Monologe vorsieht, wird der Gang der Musik überhaupt zur treibenden Kraft bis hin zum Aufgehen alles Vokalen im Instrumentalen: Wenn Daphne, zum Baum erstarrt, nur mehr wortlos singt.

Der Schneefall legt sich auch auf die Musik

Ein heftiger Gegensatz zwischen Bühne und Musik wäre also programmiert, wenn sich der allgemeine Schneefall nicht zugleich auf die Musik legen würde. Thomas Guggeis, ab kommender Spielzeit Generalmusikdirektor der Frankfurter Oper, dirigiert äußerst sängerfreundlich, achtet auf Zurückhaltung und Delikatesse, findet aber keinen Puls, der die Aufführung trüge. Es mangelt an rhythmischer Präzision, die für Strauss’ weit auszweigende Musik so wichtig ist: Nur so lässt sich die eloquente Vielstimmigkeit seiner Partituren zu einem Klang verbinden, der in eine Richtung und gleichsam von allein voranschreitet.

Guggeis muss sich überdies mit einem Problem herumschlagen, das ihm Castelluccis mit seiner nach allen Seiten hin offenen Bühne eingebrockt hat: Der Klang der Sänger verliert sich im Bühnenhaus. Die Auswirkungen für das größtenteils intim gehaltene Stück sind drastisch: Pavel Černochs Apollo ist zunächst kaum zu hören, erst später, als er am Proszenium singt, tritt sein warmer lyrischer Tenor hervor. Auch Magnus Dietrich als Leukippos muss kämpfen, schafft es mit seiner kernigen, engagiert geführten Tenorstimme aber zu besserer Präsenz. Selbst René Pape als gelassener, dabei sonorer Peneios und Anna Kissjudit mit abgrundtief dunklem Alt als Gaea stehen in ständiger Gefahr, von einem bereits stark heruntergedimmten Orchesterklang überspült zu werden.

Vera-Lotte Boeckers Sopran ist dagegen unempfindlicher. Ihre Stimme ist so gelenkig wie klar umrissen und zu einem kindlichen Leuchten fähig, wie es die Figur der Daphne erfordert. Dass sie Daphnes Leichtigkeit auch darstellerisch so nahe kommt, macht sie zum Glücksfall für diese Rolle. Ihre Stimme bringt eine Ahnung von Farbe, von Licht und Sonne ins Stück, also am Ende doch ein bisschen Hoffnung im ewigen Fallen der Schneeflocken.