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Die Kraft der zwei Herzen: Berliner Opern-Coups mit „Arabella“ und „Così fan tutte“

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Elena Tsallagova und Sara Jakubiak
Schwesterlich verbunden – oder doch brüderlich? Zdenko/Zdenka (Elena Tsallagova, li.) und Sara Jakubiak (Arabella). © Thomas Aurin

Während Tobias Kratzer „Arabella“ an der Deutschen Oper Berlin in die Moderne und Freizügigkeit führt, glückt Kirill Serebrennikov mit „Così fan tutte“ an der Komischen Oper eine überrumpelnde Lösung für den Frauentausch.

„Mit dir ist was passiert.“ Graf Elemer kann es nicht fassen, und wir auch nicht so schnell. Eben noch in bauschender Biedermeier-Seide und jetzt dieser 30er-Jahre-Fummel. Wenig später wird die Titelheldin sogar cooles Girlie sein, wie überhaupt alle plötzlich anno 2023 gelandet sind. Ganz subtil passiert diese Zeitreise, die größte Strecke wird im zweiten Akt der Oper gemacht, wenn sich die walzernde Ball- in eine koksende Party-Gesellschaft wandelt. Ein Coup: „Arabella“, gern als plüschiger, frauenfeindlicher „Rosenkavalier“-Aufguss des Erfolgsduos Richard Strauss (Musik) und Hugo von Hofmannsthal (Text) geschmäht, erzählt plötzlich viel und unerwartet über Freizügigkeit und moderne Lebensentwürfe.

Dabei krempelt Tobias Kratzer, einer der zurzeit angesagtesten Regisseure und bald Intendant in Hamburg, das Stück gar nicht um. Er ist an der Deutschen Oper Berlin einfach tief hineingekrochen und hat den (auch problematischen) Text genau gelesen. Tochter aus verarmtem Adelshaus verliebt sich in Mandryka, reichen Robustling vom Land, während ihre Schwester Zdenka in Männerkleider gesteckt wird, damit sie als Zdenko nicht ebenso prunkvoll ausgestattet sein muss: Kratzer legt behutsam offen, wie viel erotische Sprengkraft all das birgt.

Richard Strauss ist heutigen Gender-Krämpfen weit voraus

Anfangs dreht er uns mit den Ausstattern Rainer Sellmaier und Clara Luise Hertel eine Nase. „Arabella“ startet im detailreich nachgepuzzelten 1860er-Jahre-Hotel als Beschwörung von Opas Oper à la Otto Schenk. Nur dass es zwei austauschbare Bühnenkästen gibt und die Video-Regie (Manuel Braun, Jonas Dahl) immer wieder Details ins Visier nimmt – nicht unbedingt die singende Person, sondern einen blutigen Brief, einen Blumenstrauß oder Mandrykas dreckige Stiefel.

Die Vergangenheit live und als Schwarz-Weiß-Film: Kratzer bricht das Stück von Anfang an auf, arbeitet auch mit wechselnder Ästhetik. Es scheint, als ob „Arabella“ im Verlauf des kurzweiligen Abends immer mehr entkleidet wird, reduziert auf hormonelle Kraftfelder. Eine subtile, nie plakative, hintergründige Studie über Liebes-Entwürfe und das Spiel mit den Geschlechtern sind diese dreieinhalb Stunden. Das betrifft Mutter Adelaide, die sich am Ende einen Lover am Halsband hält, das gilt vor allem für Zdenka, die stückgemäß den eigentlich in Arabella verknallten Soldat Matteo verführt. Nur dass der in dieser Aufführung am angeklebten Schnurrbart des vermeintlichen Sohnemanns Gefallen findet und irgendwann Identitäten egal sind. Strauss/Hofmannsthal sind da, so registriert man schmunzelnd, unseren heutigen Gender-Krämpfen um Längen voraus.

Sara Jakubiak übernahm die Arabella eine Woche vor der Premiere

Dass die Premiere überhaupt stattfindet, ist ein kleines Wunder. Sara Jakubiak kam als Arabella erst vor einer Woche dazu für die erkrankte Gabriela Scherer. Vom Spiel her ist vom Proben-Quickie nichts zu merken, Jakubiaks herbe, gutturale Stimme passt sogar zu Kratzers Anti-Plüsch-Aktion. Russell Braun singt einen virilen, höhensicheren, wetterfesten Mandryka, die vor Beginn angesagte Indisposition hört man kaum. Als Charakterstars sind Doris Soffel (Adelaide) und Albert Pesendorfer (Waldner) dabei, Robert Watson spielt als Matteo eindrücklicher, als er singt. Und Elena Tsallagova ist als Zdenka eine Vokal-Spiel-Klasse für sich. Donald Runnicles dirigiert einen zügigen, auch rumpeligen, ziemlich veganen Strauss.

Im dritten Akt spreizt sich Kratzers Regie. Während ein Schwarz-Weiß-Film ein Pistolen-Duell zwischen Mandryka und Matteo mit versehentlich tödlichem Schuss auf Zdenka zeigt, erleben unten alle live und auf entrümpelter Bühne ihre emotionale Befreiung. Rollen- und Geschlechter-Identitäten? Es gibt eben Wichtigeres.

Susan Zarrabi und Goran Jurenec
Kann ich’s wagen? Dorabella (Susan Zarrabi) trifft auf Tizio (Goran Jurenec) in „Così fan tutte“. © Monika Rittershaus

Ein Clou, dass drei Kilometer Luftlinie entfernt gerade Ähnliches verhandelt wird. Die Komische Oper hat sich Mozarts „Così fan tutte“ in der Version von Kirill Serebrennikov geholt. 2018 kam die Produktion in Zürich heraus, damals konnte der in Russland unter Hausarrest einsitzende Regisseur nur per Video-Anruf und Assistent alles regeln. Jetzt lebt der Russe in Berlin und war hautnah dabei. Wo andere sich verzweifelt um Plausibilität mühen, warum zwei Frauen plötzlich am (verkleideten) Kerl der anderen Gefallen finden, hat Serebrennikov eine so überrumpelnde wie geniale Lösung parat: Ferrando und Guglielmo kommen tatsächlich im Krieg um, spuken und singen als Geister weiter durchs Geschehen.

Serebrennikov arbeitet virtuos auf mehreren Ebenen

Gerade halten Fiordiligi und Dorabella noch die Urnen, da werden sie wenig später von zwei stummen Muskel-Machos bedrängt. Bald zählt der Hormonpegel mehr als Witwentreue, zur Freude der Anstifter Alfonso und Despina. Serebrennikov arbeitet virtuos auf mehreren Ebenen, und dies ist in seiner eigenen Ausstattung auch wörtlich zu nehmen: Die Bühne wird vertikal geteilt. Recht schnell ist es vollkommen unerheblich, dass die neuen Kerle nur zum Küssen und Futtern den Mund öffnen, aber nicht zum Singen. Trotz todernster Gefühlsverwirrung gibt es viel zu lachen. Pointen, Gesten und Gänge sind auf den Punkt inszeniert, überhaupt erweist sich Serebrennikov, der sonst gern mal den Zyniker gibt, als sehr notenkundiger Regisseur mit Dauer-Zwinkern.

Die musikalische Ebene kann da nicht ganz mithalten. Einzig Susan Zarrabi (Dorabella) und Penny Sofroniadou (Fiordiligi) sind singspielende A-Klasse. Dirigentin Katharina Müllner lässt alles flott herunterschnurren und kann ein paar Wackler dank der Doppelbühne nur schwer ausbügeln. Wie sich alles löst, ist Berlins zweiter Opern-Coup, wird nicht verraten und ist im Sinne des Menschenforschers Mozart. Dem – dank des Konzepts von Tobias Kratzer – am anderen Opernhaus mit Strauss gefährliche Konkurrenz erwächst. Wer hätte das gedacht.

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