Sir Simon Rattle dirigiert Mozarts „Idomeneo“ an der Staatsoper voller Wohllaut, die Regie ist verordnetes Rampensingen.

Der 1781 in München uraufgeführte „Idomeneo“ gilt als Mozarts erste große Oper. Sie hatte es schwer, kam nie aus dem Schatten der fünf berühmten Musikdramen des Salzburger Genies heraus. Dass es auch heute noch eine besondere Herausforderung darstellt, diesem Werk gerecht zu werden, gibt die neue Inszenierung an der Staatsoper zu erkennen. Die Solisten sind handverlesen, aber das Resultat wirkt handzahm, harmlos fast trotz allem Wohllaut – oder genau deswegen.

Dabei ist das Drama vom ersten bis zum letzten Takt reinster Aufruhr. Die Konflikte in der Natur zwischen Seesturm und pastoraler Idylle spiegeln sich wider in der menschlichen Seele. Der kretische König Idomeneo hat geschworen, den erstbesten Menschen zu opfern, der ihm am Ufer begegnet, wenn ihn Neptun vor dem Untergang bewahrt. Kaum gelandet, trifft er ausgerechnet auf Idamante, den eigenen Sohn. Die Wiedersehensfreude ist entsprechend gedämpft.

Idamante erfährt nichts von dem Schwur und ist ohnehin mit ganz anderen Sorgen beschäftigt, liebt er doch die trojanische Prinzessin Ilia, eine Kriegsgefangene; und wird, um die Verwirrung zu komplettieren, von Agamemnons Tochter Elektra (italienisch Elettra) geliebt, die ebenfalls am Hofe von Kreta weilt. Soweit der mehrfach bedichtete, dem „Iphigenie“-Mythos entlehnte und auch schon lange vor Mozart, nämlich 1712 von André Campra vertonte Plot, eine gewaltig knirschende Version, die an der Staatsoper während der Barocktage 2021 zu sehen war.

Staatskapelle unter Simon Rattle zelebriert einen Klangreichtum

Mozarts Partitur ist feiner gestrickt, bietet mannigfaltige, musikalisch differenzierte Stile und Formen, wie es sie in dieser Fülle zuvor nicht gegeben hat. Kein Wunder, dass er den „Idomeneo“ unter all seinen Werken am höchsten schätzte. Die Staatskapelle und Simon Rattle zelebrieren diesen köstlichen Klangreichtum mit Hingabe, mit einer Art arkadischer Intensität, die einen ins Träumen geraten lässt. Streicher, Holzbläser, das dezent behandelte Blech – alles tönt warm und edel, elegant, exquisit. Womit wir bei den Sonderbarkeiten des Abends wären. Wenn auch dramatischere Akzente nicht völlig fehlen, erweckt das Orchester doch auf die Dauer den Eindruck übermäßiger Milde.

Die Zeit dehnt sich immer mehr und nähert sich im 3. Akt der Endlosigkeit. „Idomeneo“ tendiert ohnehin zur Überlänge, Mozart selbst laborierte nicht unbedingt erfolgreich an dem Problem herum, hätte am liebsten sämtliche Dacapo-Arien um die Hälfte gekürzt. Seine beiden anderen, ebenfalls zur Gattung der Opera seria zählenden Werke kommen auch schneller auf den Punkt: „Mitridate, Rè di Ponto“ (1770) und „La Clemenza di Tito“ (1791) mögen nicht auf demselben Niveau stehen, wirken aber konziser, schlüssiger.

Für die Solisten birgt Rattles Interpretationsansatz ziemliche Gefahren. Sie verlieren notgedrungen an dramatischem Impetus. Das galt insbesondere für Olga Peretyatko, die Elettra. Wer weiß, wie impulsiv die russische Sopranistin agieren kann, wie sie schauspielerisch und stimmlich aufdrehen kann, wenn man sie nur von der Leine lässt, musste über ihren leisetreterischen Auftritt staunen. „Tutto nel cor vi sento“, die furiose Wut-Arie des 1. Aktes, blieb blass und ausdruckslos. Es wäre ungerecht, hier auf die Elettra des Jahrhunderts zu verweisen, auf Anja Harteros, die 2006 in Salzburg diese Rolle wohl für alle Zeiten prägte – aber mehr Einsatz, weitaus mehr, fordert die phänomenale Nummer schon, mit der nur noch die Königin der Nacht aus der „Zauberflöte“ konkurrieren kann.

Von einer Inszenierung dieser Oper kann nicht die Rede sein

Die öfter und aus guten Gründen zur legitimen Nachfolgerin der Netrebko ausgerufene Peretyatko litt zudem unter dem Kostüm, tanzte in wehenden Tüchern wie eine Wahrsagerin über die Bühne und verströmte jede Menge akustischen Patschuligeruch. Ihre letzte große Arie im 3. Akt wurde vom Orchester stellenweise sogar zugedeckt. Besser schlug sich Anna Prohaska, die Ilia. Ihre Mittellage ist wirklich schön, in höheren Regionen wird das Timbre leicht metallisch. Sehr solide, überzeugend auch im Lyrischen, König Idomeneo, gesungen vom englischen Tenor Andrew Staples. Ihm ebenbürtig der über eine ergreifende Kopfstimme gebietende Holländer Linard Vrielink als Arbace und der machtvolle, einschüchternde Florian Hoffmann als Oberpriester.

Fehlt da nicht noch jemand? Ach ja, Magdalena Kožená! Ihr brachte der Abend den erwarteten Triumph. Sie hatte den Idamante schon damals in Salzburg gesungen, an der Seite von Harteros, und seitdem mehrmals Gelegenheit, ihr Rollenverständnis zu vertiefen. Als Mezzosopranistin gehört sie längst zur Weltspitze, souverän auf jedem Takt, extrem expressiv, ohne ins Manieristische abzugleiten. Kožená bewältigte sogar die öden Wegstrecken der Regie gekonnt, indem sie sich immer wieder dem verordneten Rampensingen entzog.

Eine Deutung des Dramas wurde nicht geliefert, es gab auch kein Bühnenbild, das diese Bezeichnung verdient. Der schottische Regisseur David McVicar arbeitet gern für den muffigen Antikentempel namens Metropolitan Opera, und so sah auch seine Inszenierung an der Lindenoper aus, nämlich nach gar nichts. Er offerierte einen einzigen, fatalen Einfall: Idomeneo wird am Ende nicht nur entthront, womit er die Schuld für seinen grausamen Schwur abbüßt, sondern auch getötet und in ein Grab gelegt. Der Sinn dieser Verdrehung erschließt sich nicht, aber das haben ja manche Weihefestspiele so an sich. Mozart dachte sich die Sache vermutlich anders. Das in hundert sanften Valeurs schwelgende Orchester jedoch, der durchdringende Staatsopernchor und Magdalena Kožená hätten ihm ganz gewiss gefallen.

Staatsoper Unter den Linden, Mitte. Tel. 20354555 Termine: 23., 26., 28. und 30. März