Freuds formidabler Figaro: Komödiantische Turbulenz im Spannungsfeld von Eros und Gewalt

Xl_le-nozze-di-figaro_3699_mueller_schuen © Copyright: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Wolfgang Amadeus Mozart Le nozze di Figaro Besuch am 26. März 2023 Premiere am 11. März 2023

Wiener Staatsoper

Freuds formidabler Figaro: Komödiantische Turbulenz im Spannungsfeld von Eros und Gewalt

Auch in der siebten Aufführung der Neuproduktion von Le nozze di Figaro an der Wiener Staatsoper singt Ying Fang nicht die Susanna. Die Sopranistin leidet an Stimmbandproblemen, rettet aber die Premiere durch einen engagierten Einsatz auf der Bühne, während Maria Nazarova den vokalen Part aus dem Orchestergraben übernimmt. Jetzt agiert die Einspringerin in der für die Comedia per musica zentralen Rolle der Kammerzofe der Gräfin auch in der Szene. Mit ihrem makellos geführten Sopran und großer natürlicher Spielfreude fügt sie sich vorzüglich in das personelle Gefüge der Neuinszenierung von Barrie Kosky ein. „Passt schon!“, wie die Wiener sagen. Wobei es noch mehr ist. Auch mehr als ein Aufstieg von der bisherigen Barbarina in Figaro-Produktionen am Ring. Eher ein Versprechen auf die Zukunft.

Die Komödie La Folle Journée ou le Mariage de Figaro von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais nimmt sich in heutiger Sicht als Vorbote der französischen Revolution aus. Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo da Ponte reizt an der Vorlage von 1778 nicht die mit Intrigen und Frivolität gespickte Kritik an der Gesellschaft des französischen Rokokos. Der von einem einzigartigen Sturm-und-Drang-Rausch erfüllte Mozart, im Jahr der Wiener Figaro-Uraufführung der Hofoper 1786 im damals französisch-wienerischen alten Burgtheater nicht einmal 30 Jahre jung, sieht in der Abrechnung mit dem Ancien régime die Chance der „runden, nackten, phrasenlosen Darstellung der Gesellschaft“, wie der Opern-Experte Ernst Lert notiert. „Der Gesellschaft aller Welt, solange es Welt und Gesellschaft gibt“. Die Figuren des Beaumarchais-Theaterstücks werden in ihren Antrieben und Selbst- wie Sehnsüchten zu universalen Menschen geformt, überhöht in Mozarts verführerischer Musik im Stil der lebendigen italienischen Konversation.

Le nozze di Figaro erlebt von Epoche zu Epoche, von Inszenierung zu Inszenierung Neuakzentuierungen. Im Rahmen seines Mozart/da Ponte-Regiezyklus für die Wiener Staatsoper nach Don Giovanni 2021 fokussiert Kosky sein aktuelles Regiekonzept auf die Leidenschaften und sexuellen Begierden der Protagonisten. Ein gerade im Wien des Sigmund Freud probater Ansatz, dessen Denken auf den Zustand der Kultur bei Unterdrückung von Trieben gerichtet ist.

Kosky ignoriert keineswegs die historische Ständegesellschaft, die hierarchischen Beziehungen der Personen im Schloss des Grafen Almaviva unweit von Sevilla. Vorrangig aber lässt er sie wie blind ihrer Triebstruktur folgen und ihren individuellen Rang, Wertschätzung oder Missachtung je nach Person, nach sexueller Attraktivität sortieren. Aus frivolem Scherz wird Sarkasmus, aus diesem subkutane, später offene Unterdrückung. Gewalt zieht ein, wo der von Martin Schebesta bestens einstudierte Chor der Burschen und Mädchen mit Giovane liete zuvor noch frohe Hochzeitsstimmung verbreitet. Genüsslich lässt der Regisseur Susanna im Duettino Via, resti servita mit Marcellina die Hausdame als „alte Hexe“ und „arrogante Gelehrte“ verhöhnen. Arrogant, weil diese zwei Bücher gelesen habe.

Besonders stark wird Koskys Korrelation von Eros und Gewalt in der Szene im zweiten Akt manifest, in der der Graf, inzwischen mit einer Axt bewaffnet, das verschlossene Kabinett öffnen will, in dem er den Liebhaber seiner Frau vermutet. Der Hausherr will der Gräfin wegen ihrer vermeintlichen Untreue eine Lektion erteilen, indem er sich anschickt, sie sexuell zu nötigen, was Susannas keckes Handeln vereitelt, und Mozarts Musik ohnehin. Eine bitterböse Ironie Koskys, lebt doch die Gräfin in ungewollter sexueller Vereinsamung angesichts der an ihr vorbei ausgerichteten erotischen Pläne ihres Gemahls.

Diese Pointe wird umso irrwitziger dadurch, dass der Regisseur die Figur des Pagen und späteren Kadetten Cherubino nutzt, um nach der „dunklen“ die „helle“ Korrelation, die von Eros und Spiel, zu präsentieren. Die stimmlich bewegliche und spielerisch phantasievolle Patricia Nolz wird von Susanna und der Gräfin mit femininen Dessous ausstaffiert. In uns Heutigen löst dies die Assoziation einer Transformation aus, deren Spektrum von der Operette der 30er Jahre in Wien und Berlin bis hin zu den Debatten um neue Geschlechter neuerdings reicht. Die famose Art, wie die Mezzosopranistin ihre Arietta Voi che sapete in der Ambivalenz von Glück und Pein gestaltet, leitet aber rasch über diese profanen Gedanken hinweg.

„Die Aristokraten von heute“, findet Barry, „sind Leute mit Geld.“ Das ist richtig, wenn man zum Beispiel auf das postsowjetische Russland blickt. Diese Erkenntnis lässt zudem die Plausibilität der Bühne von Rufus Didwiszus erkennbar werden. Das Spiel der Intrigen und Sarkasmen findet im ersten Akt vor einer weißen Wand statt, in die drei Türen eingelassen sind, die Dreh- und Angelpunkte der dynamisch treibenden Handlungen. Im zweiten Akt ist die Wand durch das Boudoir der Gräfin ersetzt, deren Ausstattung an das Schlafzimmer der Wiener Rosenkavalier-Marschallin erinnert. Bizarr wird die Ausstattung im vierten Akt, der im Original mit zwei Pavillons besiedelt ist. An Stelle von Bäumen, Blumen und sorglich geschnittenen Wegen ist eine Schräge mit einer Reihe von Klappen installiert, durch die die Almaviva-Mischpoche heraufklettert, um sich in das Treiben einzuschalten, oder durch die sie wieder verschwinden. Gewollte Desillusionierung?

Die Kostüme von Victoria Behr bilden die unterschiedlichen Charaktere nach Art und gesellschaftlichem Rang unter Verzicht auf jegliche Überzeichnung ab. Susanna im Servicedress, Almaviva im mehrfach wechselnden Outfit, darunter im samtenen Dunkelgrün des selbstverliebten Edelmannes, die Gräfin in einem noblen violetten Abendkleid, das sie von allen Personen um sie herum unterscheidet und ihr in der Einsamkeit der missachteten Gemahlin ein Alleinstellungsmerkmal sichert. In dieser seelischen Ausnahmekonstellation platziert Kosky sie am Schluss des zweiten Aktes allein vor der hinteren Wand ihres Zimmers, allein mit ihren Möbeln, allein mit sich. Es ist eine der zahlreichen kreativen Einfälle, die die Personenregie Koskys prägen. Des Operettenliebhabers Kosky, wenn ein Dutzend Gewehre der soldatisch uniformierten Statisten und des feixenden Figaros auf Cherubino gerichtet ist. Des Romantikers Kosky, wenn die Gräfin ihren seelischen Schmerz elegisch in dem Spiegel zu versenken sucht, der doch nur ihre Not reproduziert.

Philippe Jordaninspiriert am Pult des Orchesters der Staatsoper die Mozart-gewieften Musiker zu einer formidablen Leistung, auch befeuert durch die Art, wie er die Rezitative am Cembalo spielt und so die Tempi und die Dynamik der folgenden Arien und Ensemblenummern vorgibt. Jordan wird vom Publikum zu Beginn mit großem Beifall empfangen, wofür sich dieser gleichsam durch den Farbenreichtum und die spätbarocke Virtuosität der Wiedergabe bedankt. Die temporeiche Ouvertüre, ein in sich stimmiges Konzertjuwel Mozarts, gibt die Rasanz der Aufführung vor, die Jordan bis in die hinreißend musizierten beiden Finali mit ihren Tutti im Choralstil steigert.

Es ist ein Glück diese Figaro-Produktion, dass Nazarova, die als einzige an allen sechs Duetten, zwei Terzetten, dem Sextett und den Finali beteiligt ist, dem Soubretten-Profil ihres Parts und der besonderen Balance zwischen An- und Übermut ihrer Rolle gerecht wird. Peter Kellner ist ein Figaro und Bräutigam, der Susanna mit Charme und Jugendlichkeit für sich zu gewinnen versteht, in Non più andrai seine komische Seite ausspielt und mit diesem Selbstbewusstsein seinen Dienstherrn herausfordert. Se vuol ballare, signor Contino ist exakt der Rhythmus des Tanzes, den wenige Jahre später die französischen Revolutionäre dem Adel aufzwingen. Kellner beherrscht ihn überzeugend.

Hanna-Elisabeth Müller und Andrè Schuen sind als nobles Paar authentisch in dem Sinne, dass zwischen ihnen nichts stimmt. Müller verkörpert die in luxuriöser Melancholie gefangene, eigentlich immer noch jugendliche Rosina zwischen drohender Depression und aufwallender Selbstbehauptung überzeugend. Ihre Tessitur und ihr technisch ausgefeilter Sopran sorgen in all der sprudelnden Komik für den Kontrast, der Mozarts Partitur in die Höhen des Erhabenen treibt. Dove sono i bei momenti, die vom gefühlten Unglück getragene prätentiöse Arie der Gräfin nach einem ausgedehnten Rezitativ im Stil des vollendeten Barocks, gelingt ihr bravourös. Nur mangelt es der Sopranistin an dem stimmlichen Melos und der charismatischen Ausstrahlung, die es auf dem Karriereweg zur Marschallin einfach braucht. Schuen ist mit ungestümem Spiel und seinem Kraft und Anspruch verströmenden Bariton der Prototyp des „unermüdlichen Lustsuchers“, wie Freud den Menschen sieht. Im Rezitativ Hai già vinta la causa! Cosa sento! und der anschließenden Arie blättert Schuen den Herrschaftsanspruch des Grafen vortrefflich auf.

In den weiteren Rollen ist weithin Mozart-Stimmigkeit zu beobachten. Stephanie Houtzeel macht aus der Rolle der Marcellina eine quirlige Buffa-Figur. Johanna Wallroth ist eine temperamentvolle Barbarina, die mit der Cavatina L`ho perduta zu berühren versteht. Josh Lovell als Don Basilio, Andrea Giovannini als Don Curzio, Stefan Cerny als Dr. Bartolo arrondieren den positiven Gesamteindruck. Wolfgang Bankl ist als Gärtner Antonio eine vortreffliche Buffo-Besetzung.

Auf 93 Vorstellungen in fünf Jahren bringt es eine Wiener Figaro-Produktion in den 1920-er Jahren. Der Jubel des Publikums, der das Sängerensemble, den Chor und die Orchestermusiker mit Jordan im Zentrum förmlich überschüttet, gibt der Neuproduktion eine ähnlich glänzende Perspektive. Wie sich der Zuspruch von morgen in Aufführungszahlen manifestieren wird, lässt sich gelassen abwarten.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

 

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