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Opern-Kritik: Landestheater Linz – Die Meistersinger von Nürnberg

Evas trotziger Traum

(Linz, 15.4.2023) Zum Jubiläum „10 Jahre Musiktheater“ beschert sich das Landestheater Linz die Festtagsoper schlechthin und begeistert mit der spielerischen Leichtigkeit und Poesie der feministisch ambitionierten szenischen Interpretation – und einer musikalischen Lesart aus Mendelssohns Geist.

vonPeter Krause,

Eva Pogner hat kreativen Überschuss. Und den besitzt des Goldschmieds Tochter bereits als kleines Mädchen, als sie noch mit ihrem Riesen-Teddy in ihrem Kinderzimmer spielt. Da erschafft sie sich in einem Lebensalter, in dem ihre Geschlechtsgenossinnen noch mit Barbie-Puppen nach dem Modell fürs Frausein suchen, bereits aus eigenen Stücken den idealen Mann: Aus einem Wandschrank zieht sie ihn hervor: den erst noch etwas staksig schreitenden Ritter Walther von Stolzing. Der ist ein blonder Held wie aus dem Bilderbuch und zudem ganz nach ihrem Gusto, denn sie kann ihm nach Belieben Eigenschaften zuschreiben, die ihr gefallen. Wahrscheinlich ist der Mann ihrer Träume ohnehin nur eine Projektion ihrer weiblichen Begierden. Denn als der Junker aus der fränkischen Provinz nach Nürnberg kommt, um in den Kreis der Meistersinger aufgenommen zu werden, singt er den ersten Versuch eines Minneliedes nicht etwa auf Basis eigener Eingebung: Eva schreibt ihm den Text buchstäblich vor, sie betreibt gleichsam Ghostwriting. Ohne sie wäre er ein Mann ohne Eigenschaften, bleibt den ganzen (wunderbar kurzweiligen) sechsstündigen Abend über denn auch ungewöhnlich konturlos, ohne echte Ecken und Kanten des jungen Wilden, der die eingeschworen schrullige Meistergilde durch revolutionäre neue Ideen aufmischen würde.

Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz
Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz

Hauptfigur Eva

Aufmüpfig ist am Musiktheater Linz allein sie, die in Wagners Libretto meist zum Evchen verniedlichend verkleinerte Eva, der man nach Genuss der Inszenierung von Paul-Georg Dittrich den Diminutiv des „-chen“ ein für allemal aberkennen möchte. Der Regisseur macht Eva zur Hauptfigur, dreht das Frauenbild Richard Wagners (der den reichen Goldschmied Pogner seine Tochter in einem Gesangswettbewerb an den Gewinner verschachern lässt) damit beherzt um. Und verkleinert damit im Ergebnis die titelgebenden Meistersinger-Männer zum Kollektiv, in dem Individualität weitaus mehr durch die Prägnanz der Musik entsteht denn durch die szenische Profilierung.

Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz
Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz

Eine Wagnerdeutung ohne Holzhammer, dafür mit Poesie und Humor

Der neue Fokus hat somit von Beginn an Folgen, freilich fast keine negativen. Es sei denn, man würde für die von den Nazis böse vereinnahmte und zum Denkmal deutscher Kunst stilisierte Festtagsoper zwingend eine dezidiert politische Lesart erwarten, die weit mehr die Rezeptionsgeschichte auf die Bühne bringen würde, als uns Schichten der Geschichte zu präsentieren, die uns in der Gegenwart bewegen könnten. Paul-Georg Dittrich, den man seinerseits durchaus zu den jungen Wilden, gleichsam den Stolzings unter den Opern- und Schauspielregisseuren zählen darf, entscheidet sich diesmal also nicht dafür, mit dem Holzhammer auf ein (Meister-)Werk zu hauen, das man im Originaltext heute quasi nicht mehr spielen könne. Denn seine Verschiebung der Perspektiven gerät hoch musikalisch, intelligent und humorvoll, wie es sich für Wagners einzige Komische Oper ja eigentlich gehört. Den ersten Aufzug verlegt sein Bühnenbildner Sebastian Hannak vom librettokonformen Kirchenraum ins Kinderzimmer, um uns das Geschehen als Evas Traum zu präsentieren zu können, was ihr an Magdalene gerichteter Satz in der 1. Szene zu legitimieren scheint: „Mir ist, als wär‘ ich gar wie im Traum.“ Im 2. Aufzug – Eva ist zur jungen Frau herangereift – erscheint ihre Stube und der sie prägende Riesen-Teddy radikal verkleinert in der Bühnenmitte und eingebettet in die Installation eines wiederum überdimensionierten Flipper-Automaten.

Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz
Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz

Die Frau als Spielball der Männer

Die Frau, die als Kind bislang so selbstbestimmt versponnen ihre Innenwelten ins Leben trug, wird – das scheint die Bühnenmetapher nahezulegen – nun doch zum Spielball der Männer. Doch das „tör’ge Kind“ wird nun zum Trotzkopf-Teenager. Erica Eloff spielt diese Rebellion intensiv aus und damit beherzt gegen das Klischee vom braven Evchen an. Der echte intensive Kuss mit Hans Sachs, dem ersten Mann in ihrem Leben, wirkt absolut glaubhaft. Vokal übertreibt die feinstimmige jugendlich dramatische Sopranistin es dann im Eifer des Anti-Gestus mitunter, doch dient dieser Grenzgang fraglos der Intensivierung ihres packenden Portraits dieser anderen Eva. Die berühmte Prügelfuge im Finale des 2. Aufzugs zeigt dann, wie ein Spiel aus den Fugen geraten kann. Evas Traum mutiert zum Alptraum. Der die Ordnung wiederherstellende Nachtwächter tritt dann szenisch nicht auf und ist auch nicht mehr dem Bass-Solisten der Partitur anvertraut, sondern der Vielstimmigkeit des Kinderchors: Tönen hier die inneren Stimmen der kindlichen Eva?

Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz
Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz

Der Regisseur als präziser Psychologe

Ein einzelner Flipper auf sonst leerer (Weltenscheibe-)Bühne ziert Sachsens Schusterstube des 3. Aufzugs. Die Einsamkeit des charismatischen Schustermeisters und Ersten unter Gleichen der Meistersinger wird berührend deutlich. Dies liegt auch an der sängerdarstellerischen Größe von Claudio Otelli, dessen Sachs es in der finalen Begegnung mit Eva und ihrem neuen Liebhaber Stolzing schier zerreißt. Er muss mit seinem sicheren und konditionsstarken Bass-Bariton nie plump auftrumpfen, um uns emotional nahzukommen, seine Verhaltenheit schafft größtmögliche Identifikation mit dem Mann, der sich den Verzicht auf die geliebte, doch so viel jüngere Frau hart erarbeiten muss. Paul-Georg Dittrich zeigt hier, dass er auch ein präziser Psychologe ist, der sich in die Figuren exakt einfühlen kann. Das wiederum traumverlorene Quintett zeigt er als Begegnung von fünf Individuen, von denen sich vier zu Paaren finden. Einer, Hans Sachs, muss brutal erfahren, dass er allein bleiben wird.

Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz
Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz

Kunst als Selbstvergewisserung eines Gemeinwesens

Auf der Festwiese dann rundet sich die Flipper-Metapher vollends. War das einzelne Pinball-Gerät bislang eindeutig Richard Wagner gewidmet, sehen wir nun multiple Flipper, die für Opernkomponisten aller Zeitalter und europäischen Kultur- und Religionsräume stehen: von Monteverdi und Händel über Mozart zu Offenbach, Donizetti, Meyerbeer, Verdi, Puccini und Strauss. Der Abend wird so, wie Wagner es intendiert hatte, zum Diskurs über die Kunst, wie sie Selbstvergewisserung eines Gemeinwesens schafft, wie sie Tradition und Innovation harmonisch verbinden sollte. Treibende Kraft ist hier jener weibliche Stolzing namens Eva. Sie nimmt nun ihrem Märchenritter die Worte aus dem Mund und singt „will ohne Meister selig sein“ – und geht unwirsch ab, wendet sich von der männerdominierten Gesellschaft ab. Stolzing bleibt am Ende allein mit Sachs auf der Flipper-Bühne. Sachs singt seine Schlussansprache ohne Affirmation durch den nun nicht mehr präsenten Chor. Kinder in Gegenwartskleidung betreten die Bühne. Ein neues Spiel kann beginnen. Ein C-Dur-Hoffnungszeichen ist sicht- wie hörbar.

Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz
Szenenbild aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Landestheater Linz

Mozartischer Geist im Gewande des 19. Jahrhunderts

„Die Meistersinger“ als Hohelied der (immer neuen) Kunst singt auch Markus Poschner mit dem glänzenden Bruckner Orchester Linz. In seiner luziden, lyrischen, leichtfüßigen Interpretation zeigt er den zu oft vernachlässigten Einfluss eines Komponisten auf Wagner, der in der Flipper-Ahnengalerie fehlte: Felix Mendelssohn. Dessen mozartischen Geist im Gewande des 19. Jahrhunderts atmet das Orchester mit ungeahnten Pianissimo-Passagen, mit maienduftiger Eleganz und Transparenz, mit flüssigen Tempi, die wie die Szene für die Kurzweil des Abends sorgen. Das famose Ensemble dankt es dem GMD, der hier ein genuines Konversationsstück dirigiert, das niemanden zum Forcieren drängt: vom bassnobel belkantesken Pogner des Dominik Nekel, dem pointiert deklamierenden Beckmesser-Einspringer Ralf Lukas, dem vom großen Heldenfach in leichtere Gefilde zurückkehrenden Heiko Börner als Stolzing. Die Feier zum zehnjährigen Bestehen des Musiktheaters Linz geriet damit nach Maß und demonstriert entschieden, welche Strahlkraft die Linzer Oper jenseits der Traditionsmetropole Wien in Österreich mittlerweile entfaltet.

Landestheater Linz
Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg

Markus Poschner (Leitung), Paul-Georg Dittrich (Regie), Sebastian Hannak (Bühne), Anna Rudolph (Kostüme), Robi Voigt (Video), Katharina John (Dramaturgie), Claudio Otelli, Dominik Nekel, Jonathan Hartzendorf, Navid Taheri Derakhsh, Ralf Lukas, Michael Havlicek, Matthäus Schmidlechner, Markus Miesenberger, Conor Prendiville, Gregorio Changhyun Yun, William Mason, Krzysztof Borysiewicz, Heiko Börner, Matjaž Stopinšek, Erica Eloff, Manuela Leonhartsberger, Kinder- und Jugendchor des Landestheaters Linz, Sophie Kidwell, Zuzana Petrasová, Florentina Serles, Tetiana Stytsenko, Calon Danner, Xhoiden Dervishi, Hans-Jörg Gaugelhofer, Georg Hartl, Sergey Kanygin, Lucas Pellbäck, Paul Skalicki, Vladimir Slepec, Chor des Landestheaters Linz, Extrachor des Landestheaters Linz, Bruckner Orchester Linz

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