Kann eine Frau, die den Schwiegervater umbringt, zusammen mit ihrem Lover den Ehemann ermordet und zuletzt die neue Geliebte des Lovers erdrosselt, zu einer Identifikationsfigur werden? In seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk schafft Dmitri Schostakowitsch genau dieses Kunststück. Anders als Lady Macbeth in Shakespeares Tragödie erweckt Schostakowitschs Katerina Ismailowa unser Mitleid. Zwar plagt beide wegen ihrer Mordtaten das schlechte Gewissen, doch Shakespeares Lady Macbeth mordet aus Machtgier, während Katerina durch eine brutale und sexualisierte Männergesellschaft zu ihren mörderischen Verzweiflungstaten gedrängt wird.

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Lady Macbeth von Mzensk
© Magali Dougados

Am Grand Théâtre de Genève wird Lady Macbeth von Mzensk als Wiederaufnahme einer Inszenierung in Antwerpen aus dem Jahr 2014 präsentiert. Operndirektor Aviel Cahn hat damit die Chance genutzt, eine erfolgreiche Produktion aus seiner Intendanz an der Flämischen Oper nach Genf zu holen. Gezeigt wird also die damals aufsehenerregende Regiearbeit von Calixto Bieito mit dem Bühnenbild von Rebecca Ringst und den Kostümen von Ingo Krügler. Mit dabei sind auch die beiden Hauptdarsteller, Aušrinė Stundytė als Katerina und Ladislav Elgr als Sergei. Die übrigen Gesangsrollen sowie der Dirigent Alejo Pérez, der Chor und das Orchester sind in Genf neu. Da ich keine Aufführung in Antwerpen gesehen habe, kann ich nicht beurteilen, ob die darstellerischen und musikalisch-interpretatorischen Leistungen in Genf besser oder schlechter sind. Auf jeden Fall geht diese Wiederaufnahme in der Rhonestadt wahrlich unter die Haut.

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Aušrinė Stundytė (Katerina Ismailowa)
© Magali Dougados

2014 gab es noch keinen russischen Angriffskrieg in der Ukraine, und so bleibt ein vielleicht erwarteter Gegenwartsbezug ungenutzt. Bieito betont zwar, dass er seine Arbeit nicht als politische versteht, doch kann die ganz und gar inhumane Welt, die der Regisseur auf die Bühne bringt, sehr wohl in einem politischen Sinn verstanden werden. Es ist eine Welt voller Brutalität, Machtgier, Gewalt, sexueller Triebhaftigkeit und unerfüllter Liebessehnsucht. Schostakowitsch hat die Handlung ins zaristische Russland verlegt und meinte unterschwellig den stalinistischen Zwangsstaat, was zu jener berühmt-berüchtigten Kritik von 1936 in der Prawda und zum Aufführungsverbot für Lady Macbeth geführt hat. In Bieitos Inszenierung lässt einzig der akustisch vernehmbare eisige Wind, der den Bühnenumbau vor dem vierten Akt begleitet, an ein sibirisches Straflager denken. Ansonsten könnte sich das apokalyptische Geschehen irgendwo auf der Welt abspielen.

Auf der Bühne sehen wir einen stillgelegten Industriestandort, wo sich eine fürchterliche Katastrophe ereignet haben muss. Es könnte sich um eine Kohlemine, einen Atomreaktor oder eine Munitionsfabrik handeln. Die Arbeiter, die wohl mit Aufräumarbeiten beschäftigt sind, waten im Schlamm; an ihren Desinfektionsanzügen klebt der Staub. Im Parterre dieses schauerlichen Unorts befindet sich die spartanisch eingerichtete und grell beleuchtete Wohnung des Kaufmanns Boris, seines Sohnes Sinowi und dessen Ehefrau Katerina. Hier und auf dem morastigen Vorplatz spielen sich die Familienszenen ab, deren Potential an Gewalt und Sexualität der Regisseur gnadenlos freilegt.

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Ladislav Elgr (Sergej) und Aušrinė Stundytė (Katerina Ismailowa)
© Magali Dougados

Als Sinowi, ein impotenter Langeweiler, auf Geschäftsreise geht, verliebt sich Katerina ausgerechnet in den Hilfsarbeiter Sergei. Die Begattung in der Küche am Schluss des ersten Akts, die auch musikalisch sehr realistisch gestaltet ist, gleicht mehr einer Vergewaltigung als einer Liebesszene. Doch Katerina, die sich zuvor vor dem offenen Kühlschrank selbst befriedigt hat, ist bereit, sogar mit diesem triebhaften Frauenhelden Sergei eine Affäre einzugehen, damit endlich Bewegung in ihr langweiliges Leben kommt. Als Boris den Lover erwischt, lässt er ihn von seinen Arbeitern auf brutalste Weise mit dessen Hosengurt auspeitschen. Daraufhin erwürgt Katarina Boris mit ebendiesem Gurt. Dass Bieito animalischen Sex und rohe Gewalt derart explizit auf die Bühne bringt, ist nichts für zarte Gemüter. Und er widersetzt sich mutig der heute weitverbreiteten Political Correctness.

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John Daszak (Sinowi Borissowitsch Ismailow), Aušrinė Stundytė (Katerina) und Ladislav Elgr (Sergej)
© Magali Dougados

Aušrinė Stundytė ist für die Rolle der Katerina eine Idealbesetzung. Durch und durch selbstbewusste Powerfrau, gestaltet die litauische Sopranistin den heiklen Part darstellerisch mit unglaublicher Authentizität. Auch stimmlich gelingt ihr Bogen von der liebessehnsüchtigen Frau über die rachsüchtige Furie bis zur desillusionierten Selbstmörderin mit Brillanz. Ladislav Elgr als Sergei ist ihr ein ebenbürtiger Partner. Der tschechische Tenor meistert seine Rolle mit einem Realismus, der Angst und Bange macht. Der Boris von Dmitry Ulyanov lässt einen nicht nur mit seinem durchdringenden Bass das Fürchten lernen, und der Sinowi von John Daszak darf auch musikalisch eine blasse Figur machen.

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Lady Macbeth von Mzensk
© Magali Dougados

Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk ist die ungestüme Schöpfung eines achtundzwanzigjährigen Genies. Geprägt unter anderem durch seine Erfahrungen mit dem Stummfilm, hat der Komponist hier eine vielschichtige und illustrative Musik geschrieben. Sie kann brutal, schräg, grotesk, ironisch, aber auch zärtlich klingen. In vielen Passagen, nicht zuletzt auch in den instrumentalen Zwischenspielen zwischen den szenischen Bildern, kann man den späteren Großmeister der Symphonie vorausahnen. Der argentinische Dirigent Alejo Pérez, seit 2019 Musikdirektor an der Flämischen Oper, leitet das Orchestre de la Suisse Romande und den Chor des Grand Théâtre de Genève mit starker Gestaltungskraft und bringt alle diese Facetten der Partitur wirkungsmächtig zum Klingen. Die gestische Musik Schostakowitschs wird so zu einem starken Gegenwert zur drastischen Inszenierung Bieitos. 


Die Pressereise (Zugfahrt und Hotel) von Thomas Schacher wurde vom Grand Théâtre de Genève bezahlt.

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