Janáček-Oper in Lyon :
Erst einmal unter die Dusche

Von Lotte Thaler
Lesezeit: 4 Min.
Wie eiskalt ist dies Ärmchen: Die Regie von Barbara Wysocka schreibt Katia (Corinne Winters) den Todeswunsch schon vor dem Liebesunglück ein.
Für die Titelrolle in Leoš Janáčeks Oper „Katia Kabanova“ hat die amerikanische Sopranistin Corinne Winters Tschechisch gelernt. An der Oper Lyon erweist sie sich als vollkommene Inkarnation der Figur.

Keine Wolga weit und breit. Nur ein Pfützchen, in das sich Katia Kabanova am Schluss von Leoš Janáčeks gleichnamiger Oper fallen lässt – tot. Oder doch nicht? War der Freitod nur ein Scheintod, aus dem sie rechtzeitig erwacht und sich davonmacht?

Dass das tragische Ende der Titelheldin am Opernhaus Lyon eine neue sogenannte Lesart erfahren würde, ahnte man schon während des Orchestervorspiels. Da schaut Katia, mit dem Rücken zum Publikum, ihrer eigenen Bergung aus dem Wasser zu, immer noch im Büßerhemdchen unter der Steppjacke ihres Geliebten Boris (im tenoralen Höhenrausch Adam Smith). Anfang und Ende der Oper stehen allerdings in seltsamem Widerspruch zur restlichen Inszenierung von Barbara Wysocka, die Katia schon im ersten Akt in einer suizidalen Gedankenwelt gefangen sieht. Im Zwiegespräch mit Warwara, ihrer Schwägerin und Herzensfreundin (Ena Pongrac mit jugendlichem Temperament), steht Katia auf der Brüstung des geöffneten Fensters, als wolle sie gleich hinausspringen. Später sieht man per Video immer wieder ihre nackten Füße am Abgrund balancieren, zuletzt auch ihre Hand nach Halt suchen (Licht: Benedikt Zehm).

Im Plattenbau sind alle gleich

Der Todeswunsch wird dieser verletzlichen Kindfrau schon vor ihrem Ehebruch eingeschrieben. Vielleicht, weil sie sich selbst einmal mit einer welkenden Blume vergleicht, an der Seite ihres feigen Ehemannes Tichon (Oliver Johnston mit ­rollengemäß matter Ausstrahlung) und unter der Fuchtel ihrer Schwiegermutter, die Natascha Petrinsky als viel zu junge, mondän aufgebrezelte Geschäftsfrau mit etwas harschem Mezzosopran darstellt.

Man mag dies als weiteren, aktuellen Regieversuch verstehen, Katia aus ihrer sozial bedingten Opferrolle herauszulösen. Aber aus der Jeans-und-Minirock-Gesellschaft auf der Lyoner Opernbühne muss Katia gar nicht mehr befreit werden, denn diese hat das provinzielle, despotische Sozialgefüge aus Alexander Os­trowskis Schauspiel „Das Gewitter“ längst hinter sich gelassen (Kostüme: Julia Kornacka).

Dafür sorgt Barbara Hanicka mit ihrem Einheitsbühnenbild eines maroden postsozialistischen Plattenbaus, in dem alle Bewohner gleich sind. So teilen sich die reiche Kaufmannsfamilie der Kabanovs, der Lehrer und Naturwissenschaftler Kudrjasch (Benjamin Hulett mit gewinnendem lyrischem Tenor) und sein Freund Kuligin (Pawel Trojak aus dem Opernstudio Lyon) Badezimmer und Toilette, führen im Treppenhaus und Hof ein allseits einsehbares Liebesleben, rennen aus nicht immer ersichtlichen Gründen die drei Etagen hinauf und herunter.

Frankreich-Debüt nach fünffacher Rollenprobe

Nur Boris’ Onkel Dikoj mit der Patriarchenstimme des siebenundsiebzigjährigen Bassbaritons Willard White, einst Gershwins Porgy vom Dienst, scheint nicht mit im Haus zu leben. Auch Katia eilt nach ihrer ersten Liebesnacht mit Boris erst einmal unter die Dusche, um sich von ihrer Schuld reinzuwaschen. Dass in diesem Milieu Ehebruch noch eine derart schwere Sünde sein könnte, die zum Selbstmord führt, will man sich nicht vorstellen. So entspringt Katias Konflikt hier eher einem religiösen Wahn, der sie zum öffentlichen Geständnis ihres Vergehens treibt und sie schließlich zum Opfer ihrer eigenen depressiven Verfassung macht, die Schuld allein bei sich zu suchen.

Seit ihrem Auftritt bei den letztjährigen Salzburger Festspielen gilt Corinne Winters stimmlich wie darstellerisch als Inkarnation der Katia Kabanova. Und Lyon kann sich glücklich schätzen, sie jetzt für ihr Frankreich-Debüt in ihrer Paraderolle engagiert zu haben. Es ist schon ihre sechste Kabanova-Inszenierung, und in jeder einzelnen lerne sie etwas anderes über die Protagonistin hinzu, erzählt sie nach der Aufführung. Ihre Identifikation mit der Rolle geht so weit, dass sie als Amerikanerin sogar Tschechisch lernte. Bis in jede Silbe hinein weiß sie also, wovon sie singt, und sie tut dies mit solcher Empfindsamkeit für Janáčeks Gefühlswelt, dass einem oft der Atem stockt. Mit der Selbstverständlichkeit eines Naturwesens beherrscht sie die Bühne und singt sich in Welten, die ihrer Umgebung verborgen bleiben.

Bestens unterstützt wurde sie dabei von Elena Schwarz, der Dirigentin in diesem Produktions-Triumfeminat, mit Chor und Orchester der Oper Lyon. Gerade in Katias Szene mit Warwara im ersten Akt, wo das Orchester sowohl mitleidet als auch Mitleid spendet, schwärmerisch aufblüht und mit Katia ins Stocken gerät, wenn sie sich selbst nicht mehr versteht. Krasse instrumentale Schnittfolgen in lupenreiner Transparenz bestimmten diese Aufführung, mit messerscharfen Blechakkorden, euphorischen Holzbläsern, prägnanten Harfen, volkstümlichen Szenen, visionären Naturbildern, einem außer Rand und Band geratenden Or­chestergewitter: Poesie und Gewalt wa­ren die Pole.

Von (höherer) Gewalt war das Opernhaus noch Mitte März betroffen, als das Frühlingsfest „Franchir les portes“ (durch die Türen gehen) von einem auf den anderen Tag wegen des Streiks gegen die französische Rentenreform abgesagt werden musste. Mit Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“, Béla Bartóks Einakter „Blaubarts Burg“ mit dem Dirigenten Titus Engel und dem 2011 in Schwetzingen uraufgeführten Erfolgsstück „Bluthaus“ des zeitgenössischen Komponisten Georg Friedrich Haas in einer Koproduktion mit der Bayerischen Staatsoper München standen die Festivaltüren weit offen. Für die „Bluthaus“-Realisierung waren Peter Rundel und Claus Guth vorgesehen. Mozart und Bartók konnten wenigstens mit Verspätung ein paar Mal gezeigt werden, aber der Oper entgingen wegen des Streiks die Karteneinnahmen von siebzehn Aufführungen – für den Intendanten Richard Brunel eine „Ka­tastrophe“.

Nun zog er die Notbremse und wird sein Opernhaus einen Monat lang schließen, vom 15. Juli bis zum 15. August. „Katia Kabanova“ läuft noch bis zum 13. Mai.