Auf Kästners Spuren: Das packende neue Angebot für die junge Familie verbindet Unterhaltung mit Anspruch

Xl_6711_dasfliegklass_07_foto_jochen_quast © Copyright: Jochen Quast

Das fliegende Klassenzimmer Lucia Ronchetti Besuch am 13. Mai 2023 Uraufführung

Deutsche Oper am Rhein Theater Duisburg

Auf Kästners Spuren: Das packende neue Angebot für die junge Familie verbindet Unterhaltung mit Anspruch

Mitten im Mai erklingt im Theater Duisburg Stille Nacht heilige Nacht. Auf der Bühne verbreitet ein kleiner Tannenbaum aus Holz und Plastik sein mildes Kerzenlicht. Junge Leute tauschen Geschenke aus. Sie malen sich aus, wie sie bald Schneebälle werfen werden. Eine Panne im Spielplan der Deutschen Oper am Rhein? Immerhin wird ja nicht das lyrische Drama Werther von Jules Massenet gegeben, das an Weihnachten spielt. Doch nichts läuft hier fehl. Die fröhliche Weihnachtsbescherung ist das Finale des Stücks Das fliegende Klassenzimmer, das Lucia Ronchetti im Auftrag des Kooperationsprojekts Junge Opern Rhein-Ruhr nach dem gleichnamigen Kinderbuchklassiker von Erich Kästner komponiert hat.

Kästners Roman erscheint 1933, im Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Die Sprache der Erzählung ist von den Kämpfen beeinflusst, die sich rechte und linke Extremisten zum Ende der Weimarer Republik liefern. Doch ihre zentrale Botschaft, der elementare Wert der Freundschaft ungeachtet aller Alters- und Standesunterschiede, ist zeitlos. Friederike Karig hält sich in ihrem Libretto eng an die Romanvorlage, lässt allerdings anders als bei Kästner auch Mädchen nach Sinn, Anerkennung und Verständnis in ihrem Leben suchen.

Protagonisten bei Kästner sind fünf befreundete Schüler eines Internats, die für die bevorstehende Weihnachtsfeier ihr Stück Das fliegende Klassenzimmer proben. In der Adaption von Ronchetti/Karig sind es Franka, Matilda, Johnny, Martin und Uli, die sich aufmachen, ihren Mitschüler zu befreien. Dieser ist von Schülern einer verfeindeten Realschule entführt worden. Die zündende Idee, wie der Konflikt möglichst gewaltfrei zu lösen ist, hat der „Nichtraucher“, der in einem alten Eisenbahnwaggon lebt, aber, wie zu hören ist, nie mit der Bahn reist. Er schlägt einen Wettkampf vor, den Matilda, „die Boxerin“, gewinnt. Folglich wird der entführte Mitschüler frei gelassen. Endlich kann er von der schlechten Behandlung berichten, die er erlitten hat.

Unter den weiteren Handlungssträngen ist der wohl bewegendste die Geschichte, die Lehrer Dr. Bökh alias Justus von sich und seinem Freund Robert erzählt. Es ist die Geschichte von der Selbstlosigkeit unter Freunden, die füreinander eintreten, getrennt werden und sich glücklich wiederfinden. Justus, der eine gegen Robert ausgesprochene ungerechtfertigte Strafe verbüßt, nimmt sich vor, später als Lehrer für seine Schüler da zu sein und ein offenes Ohr für ihre Nöte zu haben. Eine Erkenntnis, die auch an den heutigen Schulen ihre Tragweite haben dürfte.

Um Kinder und Jugendliche zu „packen“, sollte es im Theater möglichst bunt und lebendig zugehen. Gut beraten ist, wer viele authentische Anknüpfungspunkte an das alltägliche Leben junger Leute bietet. Im Regiekonzept von Ilaria Lanzino sowie in der Ausstattung und den Kostümen, die sich Emine Güner hat einfallen lassen, finden sich viele Elemente und Momente, die dieser Überlegung folgen. Schon in der ersten Szene pulst das Leben. Das Stück beginnt auf dem Pausenhof des Gymnasiums. Es wird gespielt und getollt, teilweise „mit harten Bandagen“. Ein Junge strapaziert unablässig seine Luftgitarre. Die unzertrennlichen Fünf, die ein Transparent mit der Aufschrift „Stoppt Klimawandel“ zeigen, haben Stress mit der Aufsicht führenden Lehrerin. Nicht minder bunt geht es danach in der Turnhalle und am stillgelegten Bahngleis zu.

Die mediale Welt, in der die Schüler leben, bekommt in der Inszenierung einen großen Stellenwert. Vor Publikum auf der Bühne wird ein Film von Dreharbeiten gezeigt, die vom Können der Schüler mit der Videotechnik und von ihren Inszenierungsfähigkeiten künden. Die Welt, wie sie sie sehen, ächzt bereits unter dem gravierenden Klimawandel. Die von Andreas Etter undFabio Stoll entwickelten Videos zeigen, wie ein Vulkan ausbricht und das Leben der Inselbewohner bedroht. Wüsten breiten sich unter der wachsenden Trockenheit aus und steigern das Risiko von Menschen zu verdursten. Weil die Polkappen schmelzen, wird der Lebensraum für Eisbären knapp, steigt der Meeresspiegel mit üblen Folgen für die Menschheit. Das Fliegende Klassenzimmer erzählt mit emotionaler Wucht von Dingen, die auch fridays for future umtreibt. Es spielt so mitten im Leben der primären Zielgruppe.

Unterfüttert wird die moderne Adaption des 90 Jahre jungen Kästner-Klassikers von einer Musik, für die die Komponistin eine eigene Sprache wählt. Die noch gebrauchten Begriffe Oper undOperntext für das Libretto sind ein Stück irreführend. Ronchetti hat, wie sie erklärt, keine Oper für Sänger komponiert, sondern für „Menschen mit Stimmen“ und dafür eigens mehrere „musikalische Schriften“ entwickelt. Ihre Grundlage sind Improvisationen und beschleunigte rhythmische Muster, die an alte Volkstänze erinnern. Versucht wird, das Geschehen aus der Perspektive der fünf Hauptfiguren zu betrachten, die sich mit ihrer Einsamkeit und den schwierigen Bedingungen des Internats konfrontiert sehen.

In die „musikalischen Schriften“ sind traditionelle und populäre Musikfragmente integriert, die den Wunsch der Schüler illustrieren sollen, der Realität zu entfliehen und auf der Suche nach Idealen doch noch Teil eines „fliegenden“ Klassenzimmers zu werden. Eine wichtige Funktion kommt dem Chor zu, der die übrigen Schüler repräsentiert und schildert, wie sie beobachten, kommentieren, verurteilen, schreien, lachen. Ganz wie eine Publikumsgruppe innerhalb der Oper, die äußerst lebendig Anteil nimmt.

Ronchettis Musik stellt an jedes Publikum, nicht nur die Zielgruppe „ab acht“ gehörige Anforderungen. Mit ihnen kommen die Duisburger Philharmoniker unter der musikalischen Leitung von Patrick Francis Chestnut allerdings sehr gut zurecht. Die jugendlichen Sängerdarsteller in den Hauptpartien, denen bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten sowie jeweils eine eigene Geschichte zugeordnet werden, machen ihre Sache ausnahmslos gut.

Chorong Kimals Franka, die besonders klug ist und daher „Schopenhauer“ gerufen wird. Hagar Shavir als Matilda, die sagt: „Ich möchte Box-Weltmeisterin werden. Da brauche ich keine „Orthographie“. Valerie Eickhoff als Uli, Spitzname „Angströhre“, die gemobbt wird und ihre Tapferkeit durch einen Sprung vom Dach der Turnhalle beweisen will, was sie überlebt, wodurch sie Zuwendungen von den Mitschülern erfährt. David Fischer als Johnny Trotz, der Autor des Stücks. Sander de Jong als Martin, ein Zeichenkünstler, der Unterstützung durch die Freunde erlebt, als ihm die „acht Mark“ für die Heimreise zu Weihnachten fehlen. Die beiden erwachsenen Charaktere, der Justus von Roman Hoza, und Torben Jürgens als Robert der „Nichtraucher“ agieren gekonnt in den Rollen der erfahrenen Beobachter. Zu ihrem Repertoire gehören Reflexionen Kästners.

Im bis auf wenige Plätze gefüllten Haus herrscht nach dem letzten Vorhang einhelliger Jubel, der allen Mitwirkenden, insbesondere den Hauptdarstellern und den Philharmonikern gilt. Auch das Regieteam um Lanzino kommt mit seiner Inszenierung beim jungen Publikum an. Erste Momentaufnahmen aus der Kernzielgruppe zeigen Gesichtspunkte auf, die für die neue Familienoper sprechen. Luisa, zehn Jahre jung, findet die Musik „cool“. Die zwölfjährige Laura hebt die Melodien, die Vielfalt der verwandten Instrumente und den lebendigen Wechsel der Bühnenkulissen hervor: „Das hat mir besonders gefallen.“ Beiden sagt die Thematisierung des Klimaschutzes „zu unser aller Rettung“, wie Luisa meint, besonders zu. Nicht zuletzt der Fokus auf Freundschaft hat beiden imponiert. Dies sei in jedem Alter bedeutsam, meinen beide.

Ob Das fliegende Klassenzimmer mit seiner dramaturgischen und musikalischen Komplexität vieles von dem mitbringt, was ein zündendes Musiktheater für die junge Familie ausmacht, darf bezweifelt werden. Einmal im Hinblick auf die Einstufung „geeignet ab acht Jahre“. Schließlich sind die Protagonisten auf der Bühne Schüler im Alter von etwa 13 und 14 Jahren. Zum zweiten unter Rekurs auf die Handlung mit ihren zahlreichen Rahmenstoffen und verschiedenen Botschaften. Zum dritten unter dem Aspekt von best practice. Es ist gerade die vorherige Neuproduktion im Rahmen des Projekts Junge Opern Rhein-Ruhr, Iwein Löwenritter, des Komponisten Moritz Eggert und der LibrettistinAndrea Heuser, die mit einer phantastischen Geschichte und einer zauberhaften Musik für ein Publikum von acht bis achtzig punktet.

Zunächst freilich gilt, dass erst einmal jedes Angebot wertvoll ist, Kinder und Jugendliche – im Idealfall via Familie und Schule – mit der Kunst des Musiktheaters in Kontakt zu bringen. Die Duisburger Produktion zeigt sogar Wege auf, wie aus dem ein- oder erstmaligen Anstoß mehr werden kann. Im großzügig verteilten Programmheft ist eine Seite mit dem Hinweis „Hier ist Platz für Deine eigene Komposition“. Ein vorgefertigter Platz mit Notenlinien, auf dem Matilda, Justus & Co. neue Melodien zugeschrieben werden können. Sicher, eine singuläre Idee. Aber sie zeigt in die richtige Richtung.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Jochen Quast

 

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