Pfingstfestspiele Salzburg :
Hoffnung, dass die Sterne tanzen

Lesezeit: 4 Min.
Im Tumult innerer Stimmen: Orfeo (Cecilia Bartoli, stehend, Mitte) zwischen den Tänzerinnen und Tänzern in Glucks „Orfeo ed Euridice“
Widerstand gegen die Letzte Generation: Cecilia Bartoli denkt mit dem Orpheus-Mythos bei den Salzburger Pfingstfestspielen über die Trostlosigkeit der Gegenwart hinaus.

Flüsternd fahl, atemlos vor Angst, getrieben von Ereignissen, die für einen Menschen zu groß sind, singt Cecilia Bartoli die berühmteste Arie von Christoph Willibald Gluck: „Che farò senza Euridice“ aus der Oper „Orfeo ed Euridice“. Es ist der Augenblick, da Orpheus, dem es gelungen war, ins Totenreich vorzudringen, um seine verstorbene Braut Eurydike ins Leben zurückzuholen, eben diese Braut für immer verliert, weil er sie zu früh angeschaut hat.

Das Tempo rast wie in der Arie des Cherubino „Ich weiß nicht, wer ich bin, was ich tue“ aus der „Hochzeit des Figaro“ von Mozart. Und das Orchester in Salzburg, Les Musiciens du Prince – Monaco unter der Leitung von Gianluca Capuano, spielt jetzt, bei Gluck, so gespenstisch leise, so völlig durch Panik entseelt, wie im Sommer 2006 das Orchester unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt bei Mozart spielte, als Christine Schäfer den Cherubino sang. Beide Momente hatten und haben etwas großartig Bezwingendes: Die Interpretation durch jeweils epochale Sängerinnen und Dirigenten mit genialer Empathie erfasst den Zustand des Außer-Sich-Seins, des Nicht-Mehr-Sich-Selbst-Gehörens, die Kapitulation des Subjekts vor mythischen Mächten so überzeugend, dass jede andere Deutung dieser Musik mit einem Mal undenkbar scheint.

Gianluca Capuano klärt auf

Im äußerst interessanten Programmheft der Salzburger Pfingstfestspiele berichtet Capuano, dass die aus Glucks Zeit überlieferten Tempobezeichnungen für diese Arie zwischen „larghetto“ und „vivace con disperazione“ variieren, also zwischen „ein wenig breit“ und „lebhaft mit Verzweiflung“. Im 19. Jahrhundert lästerte der Musikästhetiker Eduard Hanslick über diese Arie (in der deutschen Fassung: „Ach, ich habe sie verloren“), Glucks Melodie funktioniere ebenso zu den Worten „Ach, ich habe sie gefunden“, was ihm als Beweis dafür galt, dass Musik gar keine Gefühle ausdrücken könne und somit keinen anderen Inhalt habe als ihre eigene Form. Glucks Opernreformprogramm für eine Musik, die der Dichtung und dem Affekt diene, glaubte Hanslick damit der Lächerlichkeit preisgegeben zu haben. Doch angesichts des kalt zitternden Fiebers, der wispernden Ekstase sinnentleerten Lebens, die Bartoli und Capuano aus diesem Moment sprechen lassen, ist es nun Hanslick, der dumm dasteht.

Bartoli als künstlerische Leiterin und Hauptdarstellerin der Salzburger Pfingstfestspiele hat dieses Jahr die musikalische Arbeit am Orpheus-Mythos zum Thema gemacht. In einer Zeit, da Kunst dazu verzwergt wird, den Minderheitenproporz identitär definierter Gruppen abzubilden und gleichzeitig durch Reichweitenausdehnung ihre Mehrheitsfähigkeit im Konsumentenvotum zu beweisen, erinnert Bartoli eindrucksvoll daran, dass der Orpheus-Mythos von Kräften erzählt, „die es uns erlauben, unsere Grenzen als gewöhnliche menschliche Wesen zu überschreiten“, wie sie selbst sagt. „Hier werden wir zum Katalysator für etwas, das viel größer ist als wir selbst“. Ihre Pfingstfestspiele schaffen, einmal mehr, dieser Größe den geistigen Freiraum.

Glucks „Orfeo“ wird in Salzburg in der Parmaer Fassung von 1769 gespielt, einer Bearbeitung für den Soprankastraten Giuseppe Millico, weshalb jetzt Bartoli die männliche Hauptpartie singen kann. Regisseur Christof Loy deutet, gefasst von Johannes Leiackers zeitlosem Festsaal als Bühne, Glucks Oper als Monolog eines trauernden Künstlers. Dreizehn Tänzerinnen und Tänzer, die Loy selbst sehr gekonnt choreographiert, werden in ihren Paarungen und Fluchten, ihrem Pomp und ihrer Hinfälligkeit zu Verkörperungen innerer Stimmen wie aus einem Roman von Dostojewski.

Christof Loy inszeniert

Auch Mélissa Petit als Euridice und Madison Nonoa als Amore sind, mit ihrer lichten Grazie, eher mentale Projektionen als reale Partnerinnen. Dort, wo Petit sich auch gesanglich als Mensch mit eigenen Ansprüchen behauptet, lässt Loy gerade die Dialogunfähigkeit Orfeos als Künstler hervortreten: Euridice ist für Orfeo nur Stimulanz und Material der eigenen Kunstproduktion, aber nicht ein ebenbürtiges Du. In dem Moment, da er dies selbst erkennt, scheitert er freilich doppelt: als Mensch wie als Künstler.

Bartoli hingegen motiviert und integriert auf überraschende Weise ganz unterschiedliche Persönlichkeiten und Kunstformen in ihr Festspielkonzept. Es tut gut, die wieder weitgehend gesundete Stimme von Rolando Villazón in der vergleichsweise kleinen Partie von Haydns Orfeo in „L’anima del filosofo“ zu hören: weich, warm, beweglich, inzwischen auch stilistisch wieder näher am 18. Jahrhundert als noch 2012, da Villazón in „Il re pastore“ Mozart wie Verdi gesungen hatte. Und Thomas Hampson als Creonte beweist mit geschmeidiger Eleganz, dass er viel bewahrt hat von der filigranen Beredsamkeit, die er sich vor dreieinhalb Jahrzehnten mit Harnoncourt stilistisch erarbeiten konnte. Wie so oft in den letzten Jahren zeigt Bartoli auch hier wieder, wenn sie die Euridice singt, dass sie – nach dem Orfeo am Vortag – mit Geschlechtergrenzen weit abenteuerlicher jongliert, als Barbara Vinken es sich in ihrem ahnungslosen Buch „Diva“, in dem sie Bartoli völlig ignoriert, zusammenschwadroniert.

Auch die Theaterformen in ihrer Vielfalt sind es, die in Salzburg zu denken geben. Die seit mehr als zwei Jahrhunderten bestehende Compagnia Marionettistica Carlo Colla & Figli zeigt im Haus für Mozart – dessen Bühne für Marionetten, die nur ein Drittel menschlicher Körperhöhe ausmachen, eigentlich zu groß ist – „L’Orfeo“ von Claudio Monteverdi. Die historische Verfremdung und die Distanzierung der Fabel als Theater im Theater – Monteverdi selbst führt dem Sänger Orpheus dessen eigenes Schicksal vor – lassen zu, was das Theater sich sonst nicht mehr zu zeigen traut: den Auftritt der leibhaftigen Hoffnung, die Entrückung des Sängers in den Himmel und den Jubel tanzender Sterne. So weit muss Kunst Abstand nehmen von der säkularen Wissenschaftsgläubigkeit einer Generation, die sich die letzte nennt, um wieder tanzende Sterne gebären zu können.