Festspiele in Bergen :
Tosca am Fjord

Von Jürgen Kesting
Lesezeit: 5 Min.
Noch nach Noten gesungen: Lise Davidsen als Tosca in Bergen.
Lise Davidsen ist in Bayreuth als Wagner-Sensation gefeiert worden. In ihrer Heimat Norwegen bezaubert sie nun erstmals als Puccini-Sängerin.

Was ist die Stadt wohl, als das Volk“, heißt es in William Shakespeares Klassenkampf-Tragödie „Coriolanus“. Im norwegischen Bergen sind es Bürger und Besucher, die zum Auftakt der Festspiele der Stadt huldigen: mit einer fröhlich-zeremoniellen Parade auf einem über den Gehwegen errichteten Catwalk: vor Video-Wänden von Gisle Martens Meyer und bizarren Fotos von Thor Brødreskift, zur Musik von Finn Tokvam, der Bergen-Hymne „Nystemten“ und der Nationalhymne „Ja, wir lieben dieses Land“. Welch wunderbar sinnlich-nachdenkliches Vorspiel zum wichtigsten Mehrsparten-Festival Nordeuropas.

„Warum wird Bergen eigentlich das Salzburg des Nordens genannt?“, scherzt ein Journalistenkollege, „wann kann Salzburg als Bergen des Südens bezeichnet werden? Hier ist man der Zukunft doch um einen Schritt näher.“ Das mag den Intendanten Lars Petter Hagen freuen. Ihm liegt daran, dass nicht nur „der Garten der Erinnerung“ gewässert, sondern auch in einem „Labor der Zukunft“ gearbeitet wird statt des Kraxelns im Überbau. Kennzeichnend, dass er Alex Ross, den Musikkritiker des „New Yorker“, für einen Vortrag und eine Diskussion unter dem Titel „Thinking beyond the canon“ eingeladen hat. In seinem Buch „The Rest is Noise“ hat Ross Wege vorgeschlagen, nach Querverbindungen zwischen „klassischer“ und „populärer“ Musik zu suchen. Mit Blick auf Rezeptionsweisen sollen die Programme der Festspiele, so heißt es, Verstörung hervorrufen, Verbindungen schaffen und Vergnügen bereiten. Für die Verbindung zur Tradition steht diesmal die posthume Ernennung der diesjährigen Festspielkomponistin: Anne-Marie Ørbeck (1911 bis 1996), deren erste Symphonie 1954 in Bergen uraufgeführt worden war und an die mit einem „Porträtkonzert“ erinnert wird. Dies gehört inzwischen, wie die Wiederentdeckungen von Florence Price in den USA und Ethel Smyth in England zeigen, zu den unausweichlichen Herausforderungen für Festspiele.

Bergen war Außenkontor der Hanse

Bergen, 1070 gegründet und eines der wichtigsten Außenkontore der Hanse, hat selbst den Reiz einer Bühne. Beim Weg durch Bryggen, das Stadtviertel am Hafen, erinnern alte Bilder und Fotos an bunten Wänden an das mittelalterliche Leben. Der Weg führt zu der Mitte des 13. Jahrhunderts erbauten Håkonshalle, einst eine königliche Residenz, heute Ort für Feierlichkeiten und Konzerte.

Neunzehn Werke von vierzehn Komponisten auf drei Instrumenten innerhalb von 75 Minuten – damit entsprach der australische Pianist Anthony Romaniuk wohl unterschiedlichsten Erwartungshaltungen des Publikums. Auf dem Podium der Halle, von massiven, aus Bruchsteinen gefügten Wänden gefasst und von einem steilen Holzgewölbe überdacht, standen, wie auf dem Programmzettel angekündigt, ein Klavier, ein Cembalo, ein E-Piano CP70; dazwischen ein Hocker, auf dem der Pianist sich von Stück zu Stück drehte und die Miniaturen zu einem diffus-kleinteiligen Großwerk zu verbinden trachtete.

Anthony Romaniuk auf drei Instrumenten

Der Australier wird, im modischen Neusprech, avisiert als Pianist, der „ungemein vielseitig zwischen Jazz und alter Musik“ unterwegs sei und dabei alle nur denkbaren Tasteninstrumente „erkunde“. Zu erfahren, warum er für die drei „Pièces froides“ von Erik Satie mal das Klavier und mal den CP70 benutzt, wäre durchaus hilfreich gewesen. Worin die Verbindung der Stücke bestehen soll, ist allenfalls zu erahnen. Es gehe um die Idee des Perpetuum mobile und die Suche nach Hypnose, Trance und Groove durch die – nach welchem Prinzip? – gemixten Miniaturen zwischen Bach und Purcell und Satie und Glass. Dass Romaniuk dem rhythmisch monotonen Finalsatz von Beethovens Sonate op. 31 Nr. 2 durch ein überlanges Improvisationsgedonner einen zusätzlichen Kick zu geben versucht, kann für den, der guten Willens ist, vergnüglich sein. Wenn aber zum Schluss eine von ihm arrangierte Toccata arpeggiata von Johann Hieronymus Kapsberger in einen Synthesizer-Sound gemischt wird, ist das verstörende Vergnügen eines Imitats zu erleben.

Es war die Sängerin Fanny Elsta, die 1953 die Gründung der Festspiele in Bergen anregte. Im Gründungsjahr sang Kirsten Flagstad den Schlussgesang der Brünnhilde und Isoldes Liebestod von Richard Wagner. Siebzig Jahre später figuriert eine Sängerin als „Artist in Residence“, die mit den Erwartungen belastet wird, Flagstads Nachfolge anzutreten: Lise Davidsen. Nach Bergen ist sie für zwei konzertante Aufführungen von Giacomo Puccinis „Tosca“ gekommen, für Verdis „Messa da Requiem“, einen Abend mit Liedern von Grieg, Berg, Schubert und Sibelius und einen Meisterkurs.

Für Davidsen, die in Bayreuth auf sich aufmerksam gemacht hatte, ist Puccinis „Tosca“ die erste Partie aus dem zentralen italienischen Repertoire, zudem eine Debütrolle, die sie aus den Noten singen muss. Die Voraussetzungen für ein im Detail ausgefeiltes Porträt sind damit wohl noch nicht gegeben. Umso bemerkenswerter, dass sie in keinem Moment nach dem Erfolg durch die Imitation von Vorgängerinnen sucht, die sie sorgsam studiert hat, wie sie tags darauf im Gespräch betont. Sie kann sich zunächst ganz auf Fülle, Strahlkraft und Höhensicherheit ihrer überreichen Stimme verlassen, auch wenn zunächst beim Auftritt mit den „Mario, Mario“-Rufen im Duett noch eine Spur von „Jitter“ – einer Frequenz-Pertubaration – zu spüren war. Aber nach kurzem Einsingen „sitzt“ die Stimme: betörend schön im ariosen Teil des Duetts („Non la sospiri“), in der Kantate zu Beginn des zweiten Aktes wie in „Vissi d’arte“. Die Arie ist oft als dramaturgischer Fehler bezeichnet worden, als Bruch der Handlung. Wird sie aber nicht nur als Anlass zum Singen verstanden, sondern als Zwang zum Nachdenken, wird sie zur Frage nach dem Sinn oder der Kraft der Kunst.

Edward Gardner dirigiert. Bryn Terfel als Scarpia und Lise Davidsen als Tosca
Edward Gardner dirigiert. Bryn Terfel als Scarpia und Lise Davidsen als ToscaThor Brødreskift

Direkt vor dem Beginn der Arie überließ Bryn Terfel die Bühne der Sängerin für eine Meditation. Bei der erst auf das hohe B führenden Zielphrase wie dem folgenden Rallentando vermied Davidsen alle äußerlichen Primadonnen-Effekte: seien es selbstgenügsame Dehnungen, seien es Seufzer. Bei den Schreiakzenten während der seelischen Folterung Toscas durch Scarpia hatte man als Hörer nie die Angst, dass die Stimme an „Toscalitis“ erkranken könnte; das hohe C im dritten Akt, wenn sie von dem Messer spricht, mit dem sie Scarpia erdolchte, blitzte auf wie einst bei der jungen Maria Callas in Mexico. Zum Dank heller Jubel und der Kuss der Königin Sonja, die gemeinsam mit König Harald im roten Sessel in der ersten Reihe saß.

Voll dämonischer Gewalt: Bryn Terfel

Dass die Partie aber noch der Rohstoff ihrer überreichen Stimme ist, wird deutlich im Vergleich zu dem in allen Details ausgefeilten Porträt des Scarpia durch Bryn Terfel. Nach mehr als dreißig Bühnenjahren mit schweren und schwersten Rollen sind zwar Spuren stimmlichen Verschleißes erkennbar; sie zeigen sich an gelegentlich grellen Veränderungen der Klangformung, die keine homogene Artikulation der Vokale mehr erlauben. Aber nach wie vor glüht in der markigen, schwarzbraunen Stimme des walisischen Baritons dämonische Gewalt: sei es, dass er im ersten Akt beim Eintritt in die Kirche brüll-singend alle zum Verstummen bringt; sei es, dass er im Monolog des zweiten Aktes seine Gier nach sadistischem Genuss an sexueller Zerstörung herausschreit. Er wird zum leibhaftigen Teufel, wenn er sich am Leiden der von ihm gequälten Sängerin – „auf der Bühne war Tosca nie tragischer“ – weidet.

Dass sich neben diesen beiden Freddie De Tommaso als Cavaradossi fast behaupten konnte – mit sattem Wohllaut singend, die hohen Töne selbstverliebt und angestrengt dehnend –, hat Anerkennung verdient. Eine Wohltat, dass für den Sagristano und den Schergen Spoletta mit Christian Valle und Kjetil Støa Sänger aufgeboten waren und nicht, wie allzu oft, chargierende „Charakterstimmen“. Unter Leitung von Edward Gardner überzeugte, ja verzauberte das Philharmonische Orchester Bergen mit einer hinreißenden Ausleuchtung der kinematographisch ausgetüftelten Partitur: bei den dramatischen Zuspitzungen der Eingangsakkorde und den Klangballungen des Te Deum, mehr noch in dem die Morgendämmerung evozierenden Vorspiel des dritten Aktes mit dem Geläut der Glocken und dem Aufsteigen des Themas von Cavaradossis Sternenarie – szenographische Musik von betörendem wie beklemmendem Zauber.