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Nach den ersten drei Bildern von „Saint François d’Assise“ wird das Publikum in Gruppen mit der U-Bahn zum Wartbergplatz geführt. Foto: Martin Sigmund.
Nach den ersten drei Bildern von „Saint François d’Assise“ wird das Publikum in Gruppen mit der U-Bahn zum Wartbergplatz geführt. Foto: Martin Sigmund.
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Sinnsuche für Agnostiker: Messiaens „Saint François d’Assise“ in Stuttgart

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Es stimmt nicht, dass das Publikum bei extrem langen Aufführungen generell schlappmacht. Das beweist neben den Bayreuther Festspiele und den Passionsspielen Oberammergau jetzt auch die Staatsoper Stuttgart. Die Neuinszenierung von Olivier Messiaens Jahrhundert-Heiligenoper „Saint François d’Assise“ dauert acht Stunden, inbegriffen die Wanderung auf dem Killesberg und die Vogelpredigt unter freiem Himmel mit echten Vogelstimmen-Interventionen. Anna-Sophie Mahler distanziert sich vom katholischen Mysterienspiel und rückt Messiaens spirituelle Schärfe in den Vordergrund. Großer Jubel für alle.

An der Staatsoper Stuttgart gab es mit dem Opernhaus selbst und dem etliche Tram-Stationen entfernten Killesberg zwei komplementäre Schauplätze für Olivier Messiaens 1983 in Paris uraufgeführte Vier-Stunden-Oper. Deshalb wurde das Publikum zum Hauptbahnhof geführt, zur sommerlichen Parkerkundung in die Autonomie entlassen und zurückbegleitet. Die Einzelgrüppchen hatten Vogelnamen wie Gimpel, Fink und Zaunkönig, Kuckuck und Amsel und damit auch Hintersinn: Ist doch eine der wichtigsten Legenden aus dem Leben des tierliebenden Heiligen Francesco dessen Vogelpredigt. Bei Messiaen wurde die Vogelpredigt zum 45-Minuten-Stück, in dem der zutiefst gläubige Komponist und Organist einen Großteil seiner ornithologischen Studien und Tonpoeme verwob. Die Vogel-Besuchergruppen wurden also selbst Adressaten dieser wunderbar post-impressionistischen Opern-Konzert-Predigt. Neben den deutschen Untertiteln erschienen auch die Vögel, welche gerade in Messiaens groß dimensioniertem Pfeif-, Schlag-, Zwitscher- und Krähochester intonierten.

Die Besetzung des Staatsorchesters Stuttgart – allein mit drei Ondes Martenots, drei Perkussionisten am aus dem Haus besetzten Schlagwerk sowie Heerscharen von Streicher- und Bläsergruppen – war eine säkulare Antwort auf spirituelle Überwältigungsstrategien. Manuel Pujol hatte mit den über hundert Chor- und Extrachor-Stimmen zwar nur ein Drittel der von Messiaen gewünschten Besetzung einstudieren können, gelangte aber auf der Bühne wie im Freilichttheater zu orgiastischen Klangwirkungen. Titus Engel hielt den Anforderungen der Partitur, deren repetierenden Tonstrahlen, der schmerzlich intensiven Tonmalerei von François’ Gotteserlebnis und ihrer packenden Eindringlichkeit in voller Länge stand.

Wenn das Pilgerpublikum im Park dann auch auf die Figur des Engels und seine Doubles traf (Selfies und Fotos erlaubt), war das eine Pausennische, die sich für die volle Konzentration bis zum Schluss als nötig erwies. Der Engel wurde zur Libelle, fast wie im Weihnachtsmärchen: Dazu gab es das vierte Bild für die Wanderung vom MP3-Player mit hauseigener Einspielung, was erstaunlich gut klang und keine Beeinträchtigung war. Die acht Stunden blieb man geistig also erstaunlich frisch.

Ebenso wie Michael Mayes in der Titelpartie. Mit Vollbart und Haarknoten ist er ein von der Karriereüberholspur weg zu psychischen Panorama-Routen bekehrter und trotzdem nicht milde werdender Platzhirsch. Nichts wird beschönigt und fraglich bleibt, ob der mit Gewalt eines atomaren Vergeltungsschlags eintreffende Gnadenstrahl tatsächlich ins Paradies führt (Licht: Bernd Purkrabek). Schön sophistisch auch die Schlusswendung: Da erscheint wie Dostojewskis Gedankenpolizei Großinquisitor Danylo Matviienko, der als Bruder Léon die Oper mit seinen Zweifeln und Ängsten beginnt. Gott- und Gnaden-Suche werden zur Endlosspirale.

Auf alle Fälle glitt Anna-Sophie Mahlers Regie nicht ab, als sie ein nicht nur im konfessionellen Sinne katholisches Heiligenleben mit einer der Klimawandel-Apokalypse standhaltendem Dringlichkeit darstellte. Alles Liebliche ist dem jetzt agnostischen musikalischen Mysterienspiel für den Großraum Stuttgart mitsamt Rest der Welt ausgetrieben. Die aus der Bürgerschaft gesammelten Hoodies hängen an den Brüdern wie Sackleinen (Kostüme: Pascale Martin). Sie machen den Chor, die als Pilgergruppen-Leiter und auf der Bühne eingesetzten Statist:innen zu einer globalisierten Millionendorf-Gruppe ohne Individualität. Sie beklagen und bewundern François, verstehen dessen Nöte aber nicht im Entferntesten. Der Libellen-Engel hat als einzige Figur Kostüme mit der grellen Buntheit von Regenbogenfarben und Lametta. Beate Ritter singt dessen Fragezeichen-Kantilenen mit milder Lieblichkeit und hypnotisch. Inspiriert durch Joseph Beuys (oder Christoph Schlingensiefs Bayreuther ‚Hasifal‘-„Parsifal“ ...) begehen die Brüder die ziemlich lange Trauerzeremonie für einen toten Hasen. Am Ende bricht sich (Video: Georg Lendorff) eine echte Libelle und damit ein Engelskind den gewaltsamen Weg aus der Larve ins Leben. Ekstatischer Beifall.

Über Plattitüden ist Mahlers Inszenierung also hinaus. Denn an der Figur des François wird deutlich, dass der Schritt von der elitären Verkapselung des Menschen vor dem Rest des Ökosystems nur unter heftigen Geburtswehen und quälendem Ringen mit sich selbst vonstatten geht. Hinter den Event-Angeboten zum Stadtpilgern und großem Opernevent steht also eine äußerst ernsthafte Aufforderung zur Sinnsuche und vielleicht sogar Weltrettung. Das hätte auch Messiaen gefallen, wenn schon nicht die frostkalte weiße Lichtdusche, die der schon ziemlich drastischen Stigmatisierung folgte.

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