Als Mozarts Die Entführung aus dem Serail 1782 Premiere hatte, war die letzte Türkenbelagerung von Wien fast auf den Tag genau 99 Jahre her, und alles „alla turca“ (oder das, was man für „exotisch“ hielt) war so schwer in Mode, wie kulturelle Zuschreibungen, Aneignungen und Ausländer-Klischees heutzutage tabu sind.

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Rebecca Nelsen (Konstanze) und Murat Seven (Bassa Selim)
© Barbara Pálffy | Volksoper Wien

Mozarts Singspiel nach einem seinerzeit populären Stoff bietet – aus dem damaligen Zeitverständnis und dramaturgisch begründet – einen „edlen“ (Bassa Selim) und einen „bösen“ Türken (Osmin) auf, wobei der Edle Sklavenhalter und Haremsbesitzer ist, und die von Seeräubern verschacherten (und nicht unbedingt noblen) Engländer nichts wie weg wollen aus dieser ihnen fremden Welt. Oder ist die Welt gar verkehrt? Eigentlich waren ja im Laufe der Geschichte die Engländer üble Kolonialherren und Sklavenhändler…

In der Inszenierung von Nurkan Erpulat an der Volksoper Wien wird mit Perspektivenwechseln gespielt, nichts gecancelt, denn die Klischees werden präsentiert wie sie sind und manchmal – wie im Verweis auf die englischen Kolonialherren – gekontert. Das klingt nach einem überzeugenden Konzept, die Umsetzung ist es aber nur teilweise.

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Stefan Cerny (Osmin) und Hedwig Ritter (Blonde)
© Barbara Pálffy | Volksoper Wien

Im ersten Akt geht es noch nicht um das alte Rein-Raus-Spiel, denn da steht man erst einmal vor verschlossenen Türen. Die Idee, das Palasttor durch einen Streifenvorhang zu ersetzen (Bühne: Magda Willi) macht optisch nicht viel her, allerdings punktet der Regisseur mit detaillierter und flotter Personenregie. Der zweite Akt ist als Paradiesgarten mit einer überdimensionalen halbierten Feige angelegt, vor und in der sich allerhand Lustwesen in Nacktanzügen herum- und „es“ miteinander treiben. Der Bassa küsst Männlein wie Weiblein (es ist zufällig auch Pride Day), und nur bei einer Art Zentaur-Wesen mit schweinsartigem Unterbau zögert er… (Konstanze muss das mit ansehen, was ihr wohl als Martern mit allen Arten vorkommt). Im dritten Akt formieren sich mehr Streifenvorhänge zu einem Luftschloss, was eine schöne Metapher, aber kein prägnantes Hintergrundbild ergibt. Davor dürfen Belmonte und Osmin noch mit Leitern über die Bühne in Slapstick-Manier über die Bühne rennen.

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Daniel Kluge (Pedrillo) und Timothy Fallon (Belmonte)
© Barbara Pálffy | Volksoper Wien

Es ist einiges los in dieser Inszenierung und etliches sogar richtig lustig. Sehr einnehmend jedenfalls die beiden sympathischen Herren Murat Seven als Bassa Selim und Stefan Cerny als Osmin; der eine im langen Federrock mit durchsichtigem Top, der andere im Taftrock, mit Pralinen und Blumen für Blonde. Letzter sorgt in der Weinseligkeit mit Pedrillo für veritable Lacher, als er zu schwadronieren beginnt, dass die Chinesen an allem schuld sind und man gegen diese eine chinesische Mauer bauen soll, das ist ein witziges und gleichzeitig politisches Update durch den deutsch-afghanischen Poetry-Slammer Sulaiman Masomi. Andere Auffrischungen des Textes kühlen das Publikum jedoch eher ab, etwa Blondes geschriene Schimpftirade gegen Osmin vor „Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln“. Was wohl als reizvoller Kontrast gedacht ist, erzielt mit einer wenig schmeichelnde Darbietung dieser Arie durch Hedwig Ritter nicht den gewünschten Effekt – sie war öfter zu laut, schrill, und nicht immer intonationssicher.

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Daniel Kluge (Pedrillo) und Stefan Cerny (Osmin)
© Barbara Pálffy | Volksoper Wien

Natürlich ist diese Blonde eine praktische junge Dame, die sich in der neuen Realität besser zurechtfindet als Konstanze, aber muss man ihr gleich eine utopische Rede über das Matriarchat in den Mund legen, die von den Lustwesen auf der Bühne und vom Publikum gleichermaßen Schweigen erntet? Braucht es tatsächlich einen Monolog des Bassa über die Verfehlungen der westlichen Welt? An den Irak-Krieg war man ja schon durch die Kostümierung des Janitscharen-Chores erinnert, und die Welt ist ohnehin zu komplex, um sie in einem Opernfinale zu erörtern. Immerhin verfügt Seven über die Ausstrahlung, seinen Text als Appell von Mensch zu Mensch wirken zu lassen, und weniger als Belehrung, auch wenn sich sicher viele belehrt gefühlt haben. Seven bekam nach Sefan Cerny und seinem hinreißend gesungenem wie komischem Osmin jedenfalls den meisten Applaus, obwohl sich Rebecca Nelsen als Konstanze redlich bemühte und sie in den schwierigen Passagen Adäquates, aber kaum Grandioses bot. Ebenso wie Blonde in Trauerschwarz gehüllt, kamen die beiden Damen zudem als ziemliche Spaßbremsen daher. Deren Lover, Belmonte (Timothy Fallon) und Pedrillo (Daniel Kluge), werden auch nicht gerade als der Stoff gezeigt, aus denen die erotischen Träume sind – und die stimmlichen leider auch nicht, denn über das Prädikat „solide“ kommen beide nicht hinaus. Beide haben zwar großes komödiantisches Talent, doch fehlt es an Geschmeidigkeit und Legato in der Stimmführung. Bei Fallon dürfte die Stimme auch schon etwas zu schwer für die bei Mozart notwendige Agilität sein.

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Rebecca Nelsen (Konstanze) und Murat Seven (Bassa Selim)
© Barbara Pálffy | Volksoper Wien

Trotz diverser Schwächen war der Versuch über den Perspektivenwechsel in dieser Entführung (begehrenswerte Türken, langweilige Westler) nicht uninteressant, und mit Alfred Eschwé, der kurzfristig für Angelo Michele Errico eingesprungen war, hatte man auch einen höchst kompetenten Dirigenten am Pult – viel Operettenerfahrung nützt auch in einem 240 Jahre altem Singspiel. Viel Begeisterung daher für ihn, aber mit etlichen Buhs durchsetzter Applaus für die Regie.

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