Wahnsinn zwischen Konvention und Innovation – „Lucia di Lammermoor“ in Köln

Oper Köln/Lucia di Lammermoor 2015.16/Foto © Bernd Uhlig

Kristallisationspunkt der „Lucia di Lammermoor“ in der Kölner Inszenierung von Eva-Maria Höckmayr ist die bühnenfüllende Bauhaus-Villa mit grandiosen Freitreppen und bodentiefen Fenstern, die Einblick in Lucias Schlafzimmer gewähren. Die Vorgeschichte muss nicht lange erzählt werden: es ist klar, dass das Haus „den Geist des ungerächten Vaters Enricos atmet“. Jetzt wohnen die Ashtons darin. Der verstorbene Vater Ashton hat das Haus der Ravenswoods seinen Kindern Enrico, Lucia und Raimondo hinterlassen. Höckmayr verlegt die Geschichte in die NS-Zeit und fokussiert so die Geschichte auf Edgardo Ravenswood, dessen jüdische Familie enteignet und aus der Familienvilla vertrieben wurde. Andrea Sanguinetti dirigiert ein hervorragendes Gürzenich-Orchester, Chor und Ensemble mit perfekter Italianitá. (Gesehene Vorstellung am 15. Juni 2023)

 

Eine „Lucia di Lammermoor“ findet immer ihr begeistertes Publikum, denn das Textbuch des gefeierten Librettisten Salvatore Cammarano nach dem Roman „The Bride of Lammermoor“ von Sir Walter Scott ist ungeheuer spannend und gibt dem Orchester, dem Chor und den Protagonisten reichlich Gelegenheit, virtuos zu agieren und extreme Gefühle auszudrücken. Die Arien weiten sich zunehmend zum Ensemblestück, die „Wahnsinnsarie“ kann als Höhepunkt des Belcanto gesehen werden. Donizettis am 26. September 1835 in Neapel uraufgeführtes „Dramma tragico“ ist ein Welterfolg geworden und wird immer wieder gespielt.

Dass es sich um mehr als eine Gruselgeschichte im Schottland des 17. Jahrhunderts und eine kritische Reflektion über die Rolle der Frau im 19. Jahrhundert handelt – vom Bruder verschachert und betrogen, vom Priester im Stich gelassen und vom Geliebten der Untreue bezichtigt – zeigt die Kölner Inszenierung. Der Nachbau der Bauhaus-Villa, die Mies van der Rohe für die Familie Tugendhat in Brünn errichtet hat, eine Architektur-Ikone mit bodentiefen Fenstern und beeindruckenden Freitreppen, ist das Bühnenbild von Christian Schmidt. Hier hat man szenische Rückblenden, Chorszenen und große Auftritte perfekt choreographiert. Mit Hilfe einer ausgeklügelten Lichtregie ist kein Szenenwechsel erforderlich.

Oper Köln/Lucia di Lammermoor 2015.16/Foto © Bernd Uhlig

Enrico Ashton wohnt jetzt dort mit seinem Bruder, dem Priester Raimondo, und seiner Schwester Lucia. Die Vertreibung der Ravenswoods aus diesem Haus wird in beeindruckenden Bildern von Statisten als Rückblende dargestellt. Vater, Mutter, der junge Enrico und seine kleine Schwester werden von Nazi-Horden (zum Chor der Jäger) aus dem Haus geworfen. Der erwachsene Edgardo und Lucia verlieben sich unsterblich, im großen Liebesduett schwören sie einander ewige Treue. Edgardo will Enrico um Lucias Hand bitten und ihm verzeihen. Dazu kommt es jedoch nicht, weil Edgardo gezwungen ist, das Land zu verlassen. Jahre später ist Enricos Stern gesunken. Er sucht Sicherheit durch die Verheiratung Lucias mit Arturo Buckton, den man sich als Sohn eines amerikanischen Besatzungsoffiziers vorstellen kann. Die Briefe Edgardos an Lucia haben Enrico und sein skrupelloser Berater Normanno alle abgefangen, die Verbindung der beiden ist unerwünscht. Als Enrico Lucia auch noch einen Brief vorlegt, in dem berichtet wird, Edgardo habe eine andere, willigt sie widerstrebend in die Ehe mit Arturo ein.

Wie ein Lamm zur Schlachtbank lässt sich Lucia zur Unterzeichnung des Ehevertrags führen. Kaum hat sie ihre Unterschrift unter das Dokument gesetzt, taucht Edgardo mit den Besitzdokumenten für das Haus auf und ist zutiefst verletzt, weil Lucia einen anderen geheiratet hat. Mit diesem Cliffhanger beginnt die Pause. Die Konfrontation Edgardos mit Enrico, passend mit schwerem Gewitter untermalt, ist der Auftakt des zweiten Akts. Im Hinblick auf die feiernde Hochzeitsgesellschaft vertagt man die Konfliktlösung bis zum Morgengrauen. Das scheue Brautpaar, Lucia starr vor Panik, ist im Schlafzimmer im ersten Stock zu sehen, während die Gäste sich amüsieren. Der Priester Raimondo verkündet mit Entsetzen, Lucia habe eine fürchterliche Tat begangen, Arturo sei tot. Arturos Angehörige eilen zu seiner Leiche. Die blutbefleckte Lucia fantasiert ihre Hochzeitsnacht mit Edgardo, unterbrochen von Entsetzenseinwürfen des Chors. Die große Szene der Lucia wird von Philipp Marguerre auf der Glasharmonika begleitet und ist ein Psychogramm einer von der Realität überforderten jungen Frau, die sich in eine Scheinwelt flüchtet: sie ist wahnsinnig geworden!

Die Hochzeitsgäste tragen in einem Trauerzug den Leichnam Arturos die Treppe hinunter und verlassen das Haus. Auch Das Personal wendet sich ab. Nach einem Disput, bei dem Normanno die Schuld zugewiesen wird, legt sich Enrico zu Lucia ins Bett. Es knallen zwei Schüsse. Edgardo erscheint, die Besitzdokumente des Hauses in der Hand, trifft aber niemand an. Er will auf Restitution verzichten, es liegt ihm nichts mehr am verlorenen Besitz. „Tu che a Dio spiegasti l´ali“ ist mit dem Lamento des Chors, der aus dem Off singt, ein würdiger Abgesang auf Lucia, deren Tod ihr Bruder, der Priester Raimondo, verkündet. Aus Gram über den Tod seiner Geliebten bringt Edgardo sich um.

Oper Köln/Lucia di Lammermoor 2015.16/Foto © Bernd Uhlig

Mit dem Kunstgriff der Verlegung der Handlung in die NS-Zeit und in die frühe Nachkriegszeit ist die Schuldproblematik offensichtlich. Lucias Vater hat das Haus der Ravenswoods durch Aneignung jüdischen Eigentums unrechtmäßig erworben, daher muss nicht erklärt werden, warum Edgardo und Enrico Feinde sind und warum Edgardo das Land verlassen hat und erst Jahre später zurückkehrt. Folglich wird am Anfang der Oper einiges gestrichen, die Rollen der Alisa und des Beraters Normanno sind stark gekürzt.

Zuzanna Marková war bereits als heimliche Geliebte Edgardos eine ätherisch anmutende Lucia am Rande des Nervenzusammenbruchs, die den Forderungen ihrer Brüder nur widerwillig nachkam. Ihre Flucht vor der Realität stellte sie sehr intensiv dar. Ihre große Wahnsinnsarie mit Begleitung durch die Glasharmonika, einer der Höhepunkte des Belcanto, wurde zu Recht mit langem Szenenapplaus bedacht.

Tenor Airam Hernández als Edgardo glänzte mit strahlenden Spitzentönen und lyrischen Liebesschwüren. Er konnte die Spannung bis zu seiner großen Szene am Schluss halten, in der er von seiner Trauer überwältigt Lucia beweinte und sich dann das Leben nahm. Er war neben Lucia der Betrogene.

Mit seinem kraftvollen Bariton zeichnete Ivan Krutikov einen von der Situation überforderten Enrico, der in seiner Körpersprache ständig seine Skrupel ausdrückte, seine geliebte Schwester zu verschachern. Man konnte erkennen, dass nicht die psychisch labile Lucia den Bräutigam umbrachte, sondern dass Enrico ihn mit einem Lampenfuß erschlug. Er konnte seine geliebte Schwester keinem anderen überlassen, eine sehr ambivalente Geschwisterbeziehung! In weiteren Rollen agierten Luke Stoker als opportunistischer Raimondo, Regina Richter als Alisa und Seungjick Kim als Normanno aus dem Ensemble sowie Armando Elizondo aus dem Opernstudio mit einem vielversprechenden Tenor als das unbeteiligte Opfer Arturo.

Der von Rustam Samedov einstudierte Chor verdeutlichte die Reaktion der Gesellschaft auf die unsäglichen Vorfälle: Entsetzen, Sensationsgier, Abscheu und Distanzierung.

Eva-Maria Höckmayr setzt voraus, dass das Publikum die Konfliktlinien der politischen und rassistischen Verfolgung und Enteignung im Nationalsozialismus und die Fragen der Restitution, die auf den Zusammenbruch Hitler-Deutschlands folgten, kennt, und so den Grund der Feindschaft der Ashtons mit den Ravenswoods intuitiv versteht. Musikalisch kann die düstere Stimmung durchaus in das Deutschland er Nachkriegszeit übertragen werden. Das Konzept geht überraschend gut auf und lässt ahnen, wie die Sünden der Väter das Glück der Kinder zerstören.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Köln / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Köln/Lucia di Lammermoor 2015.16/Foto © Bernd Uhlig

 

 

 

 

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