Berlin. Als mystisch-blutige Trauerbewältigung inszeniert Barbora Horáková die Kammeroper „Thomas“ von Georg Friedrich Haas an der Staatsoper.

„Thomas“ heißt die grandiose Kammeroper von Georg Friedrich Haas, die in der Staatsoper am Sonntag ihre gefeierte Premiere erlebte. Die Titelfigur ist der Überlebende, der sich mit dem Tod seines geliebten Matthias auseinander setzen muss. Für Romantiker mag es zuerst die Geschichte über eine Liebe, die stärker ist als der Tod, sein. Dabei beginnt die Handlung bedrückend realistisch, man hört die Atemgeräusche des Sterbenden. Es herrscht Krankenhausatmosphäre, dem kann und will sich auch die empathische Neuinszenierung von Barbora Horáková nicht entziehen. Das Röcheln, der Todeskampf, geht in Musik über.

Sterbemusiken im zeitgenössischen Stil sind unverhüllter, diesseitiger als die ins Paradies verklärenden Requiems früherer Zeiten. Ein berühmtes Klangbeispiel ist das Finale von Dmitri Schostakowitschs 15. Sinfonie von 1971, in dem das Herz langsam aufhört zu schlagen. Von Außen klingelt hier und da noch etwas Leben herein. Georg Friedrich Haas stemmt sich in seiner 2013 uraufgeführten Kammeroper gegen das Verklingen und auch das Vergessen. Am Ende, nach 100 Minuten, sitzen Thomas und Matthias am Tisch und schlürfen Spaghetti, wischen mit dem Brot die Teller sauber. Röcheln, schlürfen und wischen.

Der Blick auf den Schlusssatz lohnt sich. Beide Sänger haben tatsächlich den Mund voller Essen. Etwas Sinnliches schmatzt sich durch die Luft. „O, das Brot“, singt Thomas, und Matthias vollendet den Satz: „ist köstlich“. Haas hat den großartig auserzählten und zugleich verdichteten Text des österreichischen Schriftstellers und Schauspielers Händl Klaus, der zu den führenden Opernlibrettisten gegenwärtig zählt, immer wieder zerlegt, aufgeteilt und in Klang getrieben. Wortfetzen werden einander wie Pingpong-Bälle zugespielt. Einmal mehr bedauert man es, wenn sich große Opernhäuser bei vermeintlich kleinen Produktionen um eine hilfreiche Übertitelung drücken.

Das kleine Kammerensemble füllt den Raum mit Stimmungen

Die Musik ist voller Suggestionskraft, das kleine Kammerensemble füllt den Raum mit Stimmungen. Der Blick auf das verwendete Instrumentarium lässt das kaum vermuten. Auf einer Seite im Alten Orchesterprobensaal sind viel Schlagwerk, zwei Harfen, Gitarre, Mandoline, Akkordeon und Cembalo zu entdecken. Haas’ Musik dreht sich oft um „Nacht“, „Fremde“ oder „Leiden“. Immer dann, wenn jene Romantiker, die stets das Gute beschwören, weil es das einzig Richtige zu sein hat, an die Realitätsgrenzen stoßen, kommen kantige Geister wie Georg Friedrich Haas ins Spiel.

Er gehört zu den Schöpfern, die das Abgründige nicht verheimlichen, sondern das Privateste öffentlich machen. Das Leben und die Musik sind ein Experiment. Man kann den Komponisten, Jahrgang 1953, mögen oder auch nicht. Vor einigen Jahren gab es einen Dokumentarfilm, in dem die sadomasochistische Beziehung des österreichischen Komponisten zu seiner Ehefrau porträtiert wurde. Haas hat mehrere Ehen hinter sich. Ein angesagter Komponist ist er. In der Deutschen Oper wurde 2016 seine todesdüstere Oper „Morgen und Abend“ nach Jan Fosses Roman auf die Bühne gebracht. Die Philharmoniker führten Haas auf, und das Konzerthausorchester spielte im vergangenen Jahr die „limited approximations“ mit sechs Konzertflügeln.

Die Kammeroper „Thomas“ ist fein gearbeitet, jedes der neun Bilder hat seinen Klangcharakter. Der Komponist erklärt es mit Obertonakkorden, Sechsteltönen, mikrotonalen Clustern oder gar dem teuflischen Tritonus. Für den Zuhörer klingt die Oper über Strecken hinweg wunderbar falsch und schräg. Die innere Welt ist aus vertrauten Fugen geraten. Zwischendurch lässt Haas Fetzen von Volksmusik oder Orpheus’ berühmter Verlust-Arie von Gluck aufklingen. Thomas muss sich als Hinterbliebener mit der gesellschaftlichen Trauermaschinerie auseinandersetzen.

Die beiden Krankenschwestern erscheinen als weiße Engel

Bariton Jaka Mihelac vermag die Zerrissenheit von Thomas aufs Intensivste auszusingen und zu spielen. Seine vollmundige Gegenspielerin ist die Bestattungsunternehmerin Frau Fink. Mit ihren Koloraturen überrollt Sopranistin Clara Nadeshdin den Trauernden, es geht um schnöden Papierkram, aber auch um ihren sexistischen Übergriff. Insgesamt bleibt „Thomas“ auf fast altmodische Weise eine Sängeroper. Die Sängerriege kann sich hören und sehen lassen. Max Renner hält am Pult alles souverän zusammen.

Regisseurin Barbora Horáková unterläuft geschickt die Geradlinigkeit, mit auf- und zugezogenen Vorhängen schafft sie visuell Gegenwelten. Sie verlegt die Handlung vom aseptischen Krankenhaus-Setting mehr in den christlichen Mythos. Als weiße Engelsfiguren erscheinen die beiden Krankenschwestern, die von Ekaterina Bazhanova und Friederike Kühl anmutig, ja fast ätherisch duftend in die Haas-Klänge eingewoben werden. Die Engel reinigen behutsam das durch den Probensaal wandelnde nackte Leichendouble (Michael Wanker).

Ziemlich blutrünstig hingegen zeigt sich die Krankenhaus-Belegschaft, es gibt reichlich Theaterblut auf den weißen Hemden. Countertenor Elmar Hauser ist der irrlichternde Krankenpfleger Michael. Philipp Mathmann gibt den technokratisch daherkommenden Dr. Dürer. Gabriel Rollinson bringt als Matthias erdend seinen sonoren Bassbariton ein.

Staatsoper Unter den Linden, Alter Probensaal, Mitte. Tel. 20354555 Termine: 27. und 29. Juni, 1., 3., 5., 7. und 9.7.