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Grusical mit Köpfchen: Brett Deans „Hamlet“ an der Bayerischen Staatsoper

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Allan Clayton und John Tomlinson.
Wenn der Vater mit dem Sohne: Hamlet (Allan Clayton, re.) trifft auf den Geist seines ermordeten Papas, gesungen von Opernlegende John Tomlinson. Foto: Wilfried hösl © Wilfried hösl

Es ist „nur“ eine aufgewärmte Produktion: Nach Glyndebourne und New York macht die „Hamlet“-Oper von Brett Dean nun auch in München Station. Was gar nicht schlimm ist: Die Premiere bei den Opernfestspielen wurde einhellig gefeiert. Mit Recht.

Die Sache geht schlecht aus, das merkt man nach ein paar Minuten. „Or not to be“, murmelt der zerzauste Titelheld immer wieder, entscheidet sich also fürs Nicht-Sein – womit eines der berühmtesten Zitate der Theatergeschichte gleich mal Schlagseite bekommt. Dazu wiederholt Ophelia gern das Wort „Never“, von Komponist Brett Dean als schleichendes Klangmantra-Gift in die Partitur geträufelt.

Die ist nicht gerade der letzte Schrei. Zur großen Festspielpremiere wärmt die Bayerische Staatsoper Deans 2017 in Glyndebourne uraufgeführten „Hamlet“ auf. 2022 wanderte die Produktion an die New Yorker Met, eine deutsche Erstaufführung, allerdings in anderer Regie, gab es 2019 in Köln. Wie an allen bisherigen Spielorten wiederholt sich auch in München der Publikumserfolg. Dean, Ex-Bratscher der Berliner Philharmoniker, ist mit Librettist Matthew Jocelyn ein Coup gelungen. Sein Stück ruht sich nicht auf William Shakespeare aus, sondern arrangiert, destilliert, konzentriert das Original zum spannenden, glasklar nacherzählenden Dreistünder. Der bietet kopfgesteuerte Musik im besten Sinne. Wo sich im Hirn von Vater-Rächer und Außenseiter Hamlet alles bewölkt, braucht es entsprechende Psycho-Töne, die das Innen nach außen stülpen: Deans Partitur ist quasi (gemäßigte) Moderne aus Notwendigkeit. Und damit Festspiel- und Abo-tauglich.

Brett Dean schreibt mit großer Klangfantasie

Über weite Strecken bewegt sich das in wahnhafter Aufgeregtheit. Eine Musik, rastlos, kreisend, wie auf der Flucht. Dean schreibt mit großer Klangfantasie. Im Bedienen einer Riesenmaschine, im Abschmecken der Mixturen, in der Lust am Ausreizen der instrumentalen Zutaten bis zum Steineklopfen ist er versiert. Ein Abend zwischen Groteske und Grusical. Dean liegt das klangliche Abbild einer Situation mehr als die Formung der Figuren-Charaktere. Manchmal wächst alles bis in die vierte Dimension. Nicht nur aus dem Graben dringt dann die Musik, auch aus Ensembles daneben und hinter der Bühne bis hin zu vorab Aufgezeichnetem.

Trotz großem Apparat ergibt das eine Tiefenschärfe, die nachvollziehbar bleibt. Was auch Verdienst von Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski ist. 2017 dirigierte er die Uraufführung, das Stück hat er in beiden kleinen Fingern. Wieder ist er kundiger Steuermann, überhitzt nicht, wägt ab, gibt Orientierung. In künftigen Aufführungen darf das Bayerische Staatsorchester gern noch Zugespitzteres riskieren.

Das Geschehen beruhigt sich eigentlich nur, wenn Hamlet vom Geist des Vaters heimgesucht wird. Die (gelegentlich stereotype) Erregung weicht da einem amorphen, von allen Strukturen entkoppelten Klangkomplex. Ähnliches in der Wahnsinnsszene Ophelias, mit der Brett Dean den Belcanto widerhallen lässt, ohne freilich die existenzielle Kraft dieser Frauen-Studien zu erreichen. Vielleicht liegt’s auch an Shakespeare: Schon im Original ist Ophelia mehr Kollateralschaden einer Männer-Macho-Sache, weniger autonome Handlungsträgerin.

Der Abend wirkt wie ein Veteranentreffen

Caroline Wettergreen macht mit warmblütigen Tönen auch in Extremlagen das Beste aus der Situation. Und John Tomlinson, Wotan-Wagner-Legende, ist famoser Geist und Totengräber, auch wenn der Bass nicht mehr so raumgreifend ist wie seine darstellerische Präsenz. Überhaupt schmeckt der Abend nach Veteranentreffen. Rod Gilfry gibt einen eitlen Claudius, bei dem die virile Bariton-Kraft irgendwann nur noch Behauptung ist. Sophie Koch ist als Gertrude Grande Dame, die sich vor vokalen Grimassen hütet und mit Feinbesteck arbeitet. Charles Workman macht den Polonius dank Bronzestimme zu einer Mittelpunktsfigur. Und bei der jüngeren Generation wird der Laertes von Sean Panikkar mit opalisierendem Tenor zur singspielenden Konkurrenz des Titelhelden.

Wer die Aufzeichnung aus Glyndebourne kennt, registriert, wie frei und natürlich Allan Clayton inzwischen mit der Hamlet-Partie umgeht, auch wie knifflige Gesangslinien bei ihm zur Jonglage werden. Klangliche Nuancierungen und Spiel durchdringen sich. Und dass er vom Erscheinungsbild weniger als Prinz, eher als schwarzes, heruntergerissenes Schaf der Familie rüberkommt, passt perfekt. Dean hat ihm die Partie – viel ausdrucksintensive Mittellage, gelegentliche Höhen-Ausbrüche – ideal in die Tenorkehle komponiert.

Regisseur Neil Armfield kleidet das Geschehen in einen Schein-Realismus. Im Saal der Upper-Class begegnen und bekämpfen sich weiß Geschminkte wie Zitate ihrer selbst. Eine Gesellschaftsskizze, kein archaisierendes Blaublut-Spiel. Totengräber- und Schauspielerszene entwickeln sich mit gebremstem Humor. Und je dunkler, intriganter es wird, desto mehr wird alles derangiert. Ralph Myers lässt seine Kulissenteile rotieren und neu formieren bis zur Probenatmosphäre. Dass am Ende das allgemeine Gemetzel ins Komische driftet (und einige Lacher provoziert), scheint gewollt. Schon bei Shakespeare bewegt sich das Stück schließlich auf mehreren Ebenen parallel, wirkt manchmal wie eine Meta-Studie übers Theater.

Kein Buh, allgemeine, wenn auch relativ kurze Begeisterung. Mögen die Orthodoxen der Avantgarde über Brett Dean die Nase rümpfen: Der Brite beweist im Verein mit der Regie von Neil Armfield, dass Theater eben doch Grundzutaten braucht. Man muss ja nicht gleich bei Shakespeare nachschlagen. Aber totale Dekonstruktion hat sich im Repertoire noch selten halten können. Gut Gemachtes wie hier dagegen hat das Zeug zum Hit.

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