Poulenc in Glyndebourne :
Singen unterm Fallbeil

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Blanche de la Force (Sally Matthews) und Schwester Constance (Florie Valiquette)
Bestürzend beeindruckend: Barrie Kosky inszeniert Francis Poulencs Oper „Dialogues des Carmélites“ beim Festival von Glyndebourne.

Sosehr die Musik vom Klang lebt, sorgen doch vollkommene Stille und wortlose Gesten für ­einige der ergreifendsten Momente in der ersten Inszenierung, die Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ im Festspielhaus von Glyndebourne erlebt. Dabei gibt es in der bestürzenden Aufführung keinen einzigen Augenblick, der nicht eindringlich wäre, auch, weil an diesem Abend, anders als beim „Don Giovanni“ zur Saisoneröffnung, Bühnengeschehen und musikalische Gestaltung in perfekter, be­stechender Harmonie miteinander ver­schmolzen sind. Barrie Kosky behauptet, als jüdischer Atheist, der von Religion besessen sei, solange er nicht zum Mitmachen gezwungen werde, dazu geschaffen zu sein, dieses katholische Psychodrama zu inszenieren, weil seine Ab­lehnung des Glaubens an einen Gott ihn vor der Sentimentalität bewahre, zu der das von Frauenstimmen dominierte Werk mitunter verführe. Dabei entbehrt seine Interpretation der Agonie und der Ekstase der mit sich und ihrem Glauben hadernden Karme­literinnen, die sich zum gemeinsamen Märtyrertod entschließen, jeglicher bei Kosky sonst oft spürbaren Neigung zur ironischen Distanz. In Szenen äußerster dramatischer und spiritueller Intensität setzt er die mystische Macht der Gnade dem brutalen revolutionären Eifer entgegen.

Anfangs finden sich noch Hinweise auf die Zeit der Französischen Revolution, in der die auf einer tatsächlichen Begebenheit in Compiègne am Ende des Terreurs basierende Handlung angesiedelt ist. In der beklemmenden Ausstattung Katrin Lea Tags weichen leise Rokoko-Anstriche jedoch alsbald einer weniger spezifischen Verortung. Diese unterstreicht, zumal im expressiven Hell-Dunkel der Lichtregie Alessando Carlettis, die allgemeine und zeitlos gültige Bedeutung der theologisch-philosophischen Gespräche im Zentrum des Dramas um die aus Angst vor dem Leben ins Kloster geflohene Blanche de la Force.

Kosky zieht Parallele zum Holocaust

Ein sich nach hinten verjüngender Schacht mit rohen Betonmauern, an deren Ende eine Neonröhre prangt, gibt den Rahmen für eine Abfolge von Szenen, die vom adeligen Stadtpalais der de la Forces in die Klausur des Konvents und schließlich zum Schafott führen. An Daniel Libes­kinds architektonische Inszenierung der Beklemmung im Jüdischen Museum von Berlin und zugleich an die dortige Mauer zwischen Ost und West ­erinnernd, beschwört das karge Bühnenbild die Gewaltherrschaften des zwanzigsten Jahrhunderts herauf. Die Sug­gestion ist keine regietheatralische Ma­rotte. In ihrer 1932 veröffentlichten No­velle über die Märtyrerinnen von Com­piègne, die Poulenc indirekt als Vorlage diente, hatte Gertrud von le Fort die Figur der Blanche als „Verkörperung der Todesangst einer ganzen zu Ende gehenden Epoche“ ersonnen. Während die Autorin von Vorahnungen des national­sozialistischen Unheils erfüllt war, kom­ponierte Poulenc seine Oper im Schatten der Schrecken, die das Regime anrichtete. Kosky macht die Parallele zum Holocaust später auf ätzende Weise konkret, wenn die Ordensschwestern ihre Kleider ablegen, ihnen Pappschilder um den Hals gehängt und die Haare geschoren werden, bevor sie der Reihe nach, ihre Schuhe umklammernd, singend in den Tod gehen. Mit jedem Sausen des Fallbeils, dessen schauerliche Wirkung Poulenc steigert, indem er die regelmäßigen Klänge eines immer höher geschraubten, immer nachdrücklicheren „Salve Maria“ mit der Unregelmäßigkeit des Geräuschs der Guillotine kontrastieren lässt, fliegt ein Paar Schuhe aus den Kulissen über die Bühne.

In kanariengelbem Kleid wie ein Vogel im Käfig wirkend, fügt sich Blanche anfangs der Rolle des kleinen Mädchens, die der Bruder ihr aus Sorge um ihr Seelenheil zuweist. Stimmlich und dramatisch fesselnd zeichnet Sally Matthews den Leidensweg der von Neurosen geplagten höheren Tochter nach, die glaubt, im re­glementierten Alltag des Klosters einen heroischen Lebenssinn finden zu können. Die sterbenskranke Priorin belehrt sie jedoch, dass nicht die Regeln den Orden behüten, sondern der Orden die Regeln hüte. Katarina Dalayman, die sich in qualvoller Agonie von Gott verlassen fühlt und das ganze dem Gebet gewidmete Leben für sinnlos erklärt, beeindruckt dabei mit düsteren Tönen. In der Partie der neuen Priorin besänftigt die wunderbar warm timbrierte südafrikanische Sopranistin Golda Schultz die Ordensschwestern, die Karen Cargills Mutter Marie gegen den Willen ihrer Vorgesetzten zum Martyrium gedrängt hat.

Den Widerstreit zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv veranschaulicht Kosky auf erfindungsreiche Weise, wenn er die Nonnen bei der Verrichtung ihrer häuslichen Pflichten wie in einem niederländischen Genregemälde arrangiert, während die beiden Novizinnen, die labile Blanche und Florie Valiquettes von jugendlich-naivem Frohsinn beseelte Con­stance, im Gespräch über das wieder­kehrende Thema des Sterbens für einen anderen aneinandergeraten. Ihre Angst vermag Blanche erst im Angesicht des Todes zu überwinden, als sie sich aus der Menge herauslöst und ihre Hand in die von Constance legt, bevor sie ihren Ordensschwestern mit den hinreißend schwebenden Tönen des „Veni, creator spiritus“ als Letzte aufs Schafott folgt. Ebenso feinfühlig wie ausdrucksvoll lotet Robin Ticciati mit dem London Philharmonic Orchestra die tonmalerischen Effekte der Partitur aus, mit denen Poulenc die Palette der Gefühle von tiefer Verzweiflung bis zur himmlischen Beseelung in dramatischen Aufwallungen in Klang umsetzte. Ein triumphaler Abend von nachwirkender Kraft.