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Rudi Stephan: Die ersten Menschen - Oper Frankfurt: Ian Koziara (Chabel). © Matthias Baus

Rudi Stephan: Die ersten Menschen - Oper Frankfurt: Ian Koziara (Chabel).

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Überbordendes Klangfest – Rudi Stephans „Die ersten Menschen“ an der Oper Frankfurt

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„Die Tonkunst begrub hier einen reichen Besitz, aber noch viel schönere Hoffnungen“ schrieb Grillparzer für das Grab Franz Schuberts. Der Satz lässt sich auf Rudi Stephan anwenden. Er galt um 1910 als „die bedeutendste musikalische Kraft des jungen Deutschland“ (Kasimir Edschmid) – und dann fällt er am 17.November 1915 bei Tarnopol in Galizien, 28jährig. Seither gilt seine 1914 fertiggestellte, aber erst 1920 in Frankfurt uraufgeführte Oper als schwierige Rarität.

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„Wenn nur meinem Kopf nichts passiert, es sind noch so viele schöne Sachen drin“ sagte Stephan seiner Mutter beim Abschied. Ausgerechnet ein tödlicher Kopfschuss beendete dann sein Leben, während die oft überschäumende Opulenz seines Musikdramas die Selbsteinschätzung belegt. Über Wagner hinausgehend, mit einer sanften Englischhorn-Linie beginnend („Tristan“ 3.Aufzug), malt Stephan dann über spätromantische Grundierung hinaus in expressionistischen Steigerungen bis zum ekstatischen Ausbruch eine Klang-Farb-Orgiastik, die eigenständig neben den Werken von Korngold, Schreker, Zemlinsky oder Richard Strauss steht … Skriabins „Poème de l’extase“ bildet eine Parallele. Frankfurts Opern- und Museumsorchester stand am Ende zurecht auf der Bühne und wurde gefeiert für eine vielfarbig oszillierende, vom Piano bis zu Überwältigungsfluten aufgetürmte Musikdramatik.

Das ist dem Inhalt angemessen. Denn das von Stephan gewählte Drama Otto Borngräbers lehnt sich zwar an die biblische Erzählung von Adam-Eva-Kain-und-Abel an, bezieht aber die um 1900 kursierenden philosophischen, teil blühend hypertrophen Spekulationen um Naturrecht, Seinsentwürfe, Glaubensfreiheit bis hin zu freier Liebe und Inzest ein. Zeitnah grüßen Ibsen-Strindberg-Freud, auch Otto Weininger in schwelgerisch, mitunter bombastisch verquaster Sprache – prompt im katholischen Bayern ab 1912 verboten: Ein irdischer Welt-Gestaltung verhafteter „Homo faber“-Adahm kann die Liebes- und Kind-Sehnsüchte einer glutvoll emotionalen Chawa-Eva nicht erfüllen; Sohn Chabel elaboriert aus seiner Lebenssinnsuche eine transzendente Gottes-Erkenntnis; Kajin bleibt seiner unerfüllten Sexualität verhaftet, Inzest-Wünsche, Brudermord, Todeswunsch … „unstät stürmen durch die weite, weite Welt“…

… Kleinbürgermief lässt einen fast Kohl-Koch-Geruch befürchten …

Dies, einem Regisseur wie Tobias Kratzer anvertraut, macht eine zu ahnende Welt sichtbar: die aus den Konflikten einer Kernfamilie heraus dominierende Katastrophe der Welt – also sind Kratzers „erste“ die „letzten“ Menschen – fast. Die zunächst etwas enge Szene zeigt ein proper sauberes, detailfreudig eingerichtetes Wohnküchenidyll mit Ausblick in eine paradiesisch blühende Landschaft; Adahm will Chawa mit einer neuen Küchenschürze bändigen statt ihrem umgestümen Begehren zu folgen, Kleinbürgermief lässt einen fast Kohl-Koch-Geruch befürchten; doch dann steigt Chabel in einem oliven Schutzanzug und Atemmaske von oben in den Raum, die Bühne fährt auf und ist links von einer vollen Vorratskammer, rechts von einem Notstrom-Generator und extra bestrahlten Keimlingsbeeten begrenzt: ein aktuelles „Prepper“-Zuhause mit allen Konflikten in seiner Enge, in dem ein Lamm mit seinem frischen, blutigen Fleisch eine „Feier“ darstellt.

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Atemverschlagend öffnet sich dann der Vorhang zum 2. Akt: eine bühnenweite, grau-schwarze rauch-durchwaberte Trümmer-Brand-Wüste nach der Weltkatastrophe, eine ausgebrannte Familienlimousine, eine kaputte Kinderschaukel, das zuvor im Familienfilmchen zu sehende Kinderschwimmbecken als leere Hülle, Türreste, kahlgebrannte Baumstämme. In dieser Öde kommt es zu finalen Katastrophen: Chabels Inzest mit der Mutter – von der orgiastischen Musik beglaubigt; der Brudermord Kaijins; sein letzte Phrase „Lasst mich sterben an dem wilden, süßen Weib“ endet in einer tödlichen Selbstentmannung parallel zum Saxophon im Orchester … und während Adahm und Chawa als „altes Paar“ zurückbleiben, erklingt ein warmes, Walküren-Finale-nahes E-Dur … frappierend klappen in der Wüste weitere Bunker-Deckel auf und viele, viele Menschen treten herauf … eine neue „Wüsten-Generation“? Mit dieser provokanten Frage, abgeleitet aus Adahms „Einen Sohn schenkt Gott uns wieder – Ein Stern wird wiederkommen!“ entlässt Regisseur Kratzer das Publikum aus Rainer Sellmaiers fabelhaft divergierenden, am Ende unvergesslichen Bühnenbildern.

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Als sich das Premierenpublikum aus dieser schier erschlagenden Visualisierung aufraffen konnte, wurden die vier glänzenden Solisten enthusiastisch gefeiert: Ian Kozieras immer wieder lyrisch blühender Chabel-Tenor; der Kajins Zerrissenheit dramatisierende Bariton von Ian MacNeil; die auf „Welt-Gestalten“ gerichtete Seriosität Adahms in Andreas Bauer Kanabas’ sonorem Bass – alle überstrahlt von dem glühend-leuchtenden Sopran Ambur Braids. Nach vielen Verbeugungen öffnete sie einen weiteren Bunkerdeckel, wich staunend zurück – und emporstieg „aus dem Graben“ GMD Sebastian Weigle. Er wurde für ein üppiges, schier überbordendes Klangfest gefeiert, ein gelungener Schlussgipfel für „15 Jahre GMD in Frankfurt“. Intendant Bernd Loebe verbeugte sich mit einem breit gefächerten Bukett und dankte später verbal ausführlicher. Der neue Frankfurter OB Mike Josef überreichte die Urkunde zur Ehrenmitgliedschaft der Oper. Ein schöner Schluss einer fulminanten Neudeutung – eine Aufzeichnung wert.

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