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„Die ersten Menschen“ an der Oper Frankfurt – Adams Familie

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Der erste Mensch ist tot: vorne die entsetzte Mutter Eva, Ambur Braid, hinten der glücklose Mörder Kain, Iain MacNeil. Foto: Matthias Baus
Der erste Mensch ist tot: vorne die entsetzte Mutter Eva, Ambur Braid, hinten der glücklose Mörder Kain, Iain MacNeil. Foto: Matthias Baus © Matthias Baus

„Die ersten Menschen“, die einzige Oper von Rudi Stephan, ist nach gut 100 Jahren wieder in Frankfurt zu erleben. Genial inszeniert von Tobias Kratzer, dirigiert von Sebastian Weigle, der zum Abschluss seiner Zeit als GMD gefeiert wird.

Was ist das wieder für ein Skript der Musikgeschichte, wenn ein bereits sehr auffallender Komponist als 28-Jähriger am Anfang des Ersten Weltkriegs umkommt (es scheint dazu erschütternde Augenzeugenberichte zu geben), und am Ende des Zweiten Weltkriegs verbrennt nach einem Luftangriff sein Nachlass, so dass nur übrig ist, was zu diesem Zeitpunkt schon gedruckt oder wenigstens beim Verlag war? Was soll das und was sagt das über den spätromantischen Opernkanon, den wir uns zurechtgelegt haben – Richard Strauss, Franz Schreker, Alexander von Zemlinsky, Erich Wolfgang Korngold und so weiter – im rührenden Glauben, dass das nicht ein Zufallsprodukt, sondern standfest und folgerichtig sei?

Die Sinnlosigkeit des frühen Todes ist in jedem Winkel und an jedem Tag unerträglich, aber manchmal sticht sie besonders ins Auge. Auch spiegelt sie sich in der vielleicht erschütterndsten Szene der einzigen Oper von Rudi Stephan: Kain hat Abel erschlagen, weil er so eifersüchtig war. Das hat es noch nicht gegeben, der erste Totschlag der Menschheit, und schon ist unbegreiflich, wie das passieren konnte, auch dem Täter ist es unbegreiflich. Kain und seine Mutter und sein Vater sind entsetzt, aber der Tod, den sie hiermit näher kennengelernt haben, ist irreversibel. Die Musik kommentiert mit finsterer Wucht. Was mag das Publikum gedacht haben, als es das 1920 sah, das Morden des Weltkriegs erst ein paar Jahre hinter sich?

„Die ersten Menschen“ von Rudi Stephan, der 1887 in Worms geboren und 1915 bei Tarnopol erschossen wurde, war im Jahr seines Todes fertig, die Uraufführung erfolgte posthum vor fast genau 103 Jahren in Frankfurt. Dass sie der höchst wirkungsvollen Musik zum Trotz eine Rarität geblieben ist, wird mit dem frühen Tod des Komponisten zusammenhängen, vielleicht auch mit der ungewöhnlichen Besetzung: einem beanspruchten, zum Teil sehr beanspruchten Quartett zum großen Orchester, kein Chor, keine Nebenrollen, so dass der Abend kompakt und großformatig zugleich ist. Es könnte aber auch mit dem etwas bizarren Libretto zu tun haben, einer Dichtung von Otto Borngräber (1874-1916), einem „Erotischen Mysterium“.

Sie erzählt die Geschichte von Adam und Eva, Kain und Abel mit zwei besonderen Volten. Die eine ist etwas peinlich, obwohl man darüber stehen sollte, sie betrifft den (naheliegenden) Inzest, ohne den es in Ermangelung weiterer Frauen wohl keine Menschheit gegeben hätte. Vor allem Kain, hier: Kajin, ist ein junger Mensch unter sexuellem Hochdruck. Als er in der Welt draußen partout keine andere Frau finden kann, kennt er kein Halten mehr. Abel, hier: Chabel, hat sich besser im Griff, aber auch er begehrt seine Mutter Eva, hier: Chawa, die sich ihrerseits für Chabel interessiert, da ihr Mann Adahm alt und dem Erotischen gegenüber gleichmütig geworden scheint. Auch sie hat ja wenig Auswahl.

Die andere Volte ist aus heutiger Sicht weniger pikant und provozierend, aber man staunt immerhin noch: Chabel wird hier als Erfinder Gottes vorgestellt, der damit – seinerseits auf der Suche nach Trost in seinem Frust – die Religion ins Haus Adahm und Chawa bringt. Vor allem Kajin versteht nicht, wozu das gut sei soll, Tiere zum Opfer töten – das Lämmchen tut ihm auch Leid – oder Gott ein Haus bauen. Denn was müsse das für ein armer, kleiner Gott sein, der auf solche Opfer und Häuser angewiesen sei. Auch Chawa findet es nachher unlogisch, dass sie um etwas bitten und gar flehen soll, das sie vorher auch schon hatte – oder eben nicht hatte, aber nun hat sie es auch nicht.

Musikalisch findet man sich zwischen den Obengenannten wieder, auch mit einem Richard-Wagner-Anteil. Und durch die tiefen, halbbewussten Gefühlsverirrungen, die bei einem Komponisten dieser Zeit zwangsläufig solche Assoziationen beflügeln müssen, ist vor allem Strauss’ „Salome“ nah: atmosphärisch, dramaturgisch, aber auch in der engen Anschmiegsamkeit der reaktionsschnellen Musik an den Text (der wohlgemerkt nicht stark ist, hier zeigt sich eher das „Daphne“-Problem, das Libretto kommt im Einzelnen der Güte der Musik nicht hinterher). Das ist nur süffig, wenn es Stephan so haben will. In besonders stressigen, krassen Momenten aber bleibt manchmal mehr ein Geräusch als ein Ton Musik stehen, wie ein Tinnitus-Vorgeschmack.

An der Oper Frankfurt war „Die ersten Menschen“ schon vor Jahr und Tag als Corona-Alternative zu Prokofjews „Krieg und Frieden“ angekündigt. Jetzt ist es ausschließlich ein Glücksfall und eine auf seine Weise tief überzeugende Wahl für den nahenden Abschluss der Saison und den Abschied von Generalmusikdirektor Sebastian Weigle. Vielleicht wurde das Ruder auch darum nicht mehr herumgeworfen. Was für ein Verlust wäre das gewesen.

Adam und Eva auf der Bühne zu zeigen, wäre auch ohne die Inzest-Problematik (gegen die Siegmund und Sieglinde zwei keusche Engel sind) nicht so einfach, wenn man nicht ins Feixen kommen will. Tobias Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier greifen kräftig ein und kommen gerade dadurch zu einem genialisch plausiblen Ergebnis. Die Welt scheint hier eher an ihr Ende gekommen zu sein. Im ersten Akt sehen wir Adams Familie in einer Art Bunker. Die leuchtende Sommerlandschaft vor den Fenstern erweist sich nachher – man wundert sich schon etwas – als Videoillusion. Die Regale sind nach Prepper-Art mit wenig leckerem Essen gefüllt, aber damit dürfte eine ganze Weile hinzukommen sein. Adam pflegt sein winziges Zimmerbeet. Eine Leiter führt zum Ausgang nach oben, dort scheinen Schutzanzüge am Platze zu sein. Aber ein Hund stromert durchs Gelände und bekommt Szenenapplaus.

Im zweiten Akt bestätigen sich die schlimmsten Ahnungen. Draußen zeigt sich auf einer Drehbühne eine zerstörte Welt von heute, Auto, Klettergerüst, Plantschbecken – manches davon war zuvor im Familienfilm aus glücklichen Tagen zu sehen (Video: Manuel Braun) – stehen abgebrannt umher. Ein ebenfalls stehengebliebener Kaminschlot ist zum Opferaltar umfunktioniert – Religion noch ohne Kirche und Liturgie über das hinaus, was Chabel vorschlägt. Die Schutzanzüge scheint es immerhin nicht mehr zu brauchen. Hier kommen sich Chawa und Chabel näher, hier bringt Kajin den Bruder um, nicht weil Gott sein Opfer verschmäht, sondern weil er vor Eifersucht rast. Als Mann, nicht als Sohn.

Kajins sexueller Überdruck und generelle Unausgeglichenheit – beglaubigt durch ein Saxofon, das ihn durchaus beharrlich begleitet, ihm vorauseilt, ihm hinterherspringt – werden mit allen Konsequenzen ausgespielt. Kratzer, der sich nie mit seinen originellen Settings und Grundeinfällen begnügt, der praktisch immer eine erstklassige Personenregie bietet, hat hier noch dazu ein fabelhaftes Quartett zur Verfügung.

Ambur Braid und Andreas Bauer Kanabas sind Eva und Adam, ein in Ehren älter gewordenes Paar, noch attraktiv, aber er ist auch abgelenkt und sie hängt ein bisschen fest in ihrer Einsamkeit. Singen muss sie wie toll, eine hochexpressive, hochdramatische Partie, ideal für Braid, aber fordernd selbst für sie. Bauer Kanabas hat den milden, diesmal auch ernstlich ahnungs- und arglosen Part, er singt und spielt aber keinen Tropf, sondern einen normalen, stabilen Ehemann, der einfach nicht mitbekommt, was los ist. Die Erdung zieht die biblischen Figuren nicht ins Banale, im Gegenteil gelingt es Kratzer, die Überspanntheit in eine psychologisch fast schmerzlich gut nachvollziehbare Lebenssituation zu transportieren.

Iain MacNeil und Ian Koziara sind Kajin und Chabel und sehen sich aus der Ferne tatsächlich ähnlich. Bariton MacNeil ist aber – samt Stimme und Saxofon – ein Aggressionspaket, dem die anderen zu Recht aus dem Weg gehen. Der Tenor Koziara ist bloß die etwas gefasstere Variante, außerdem kompensiert er mit seinem neureligiösen Furor. Beim „heilig, heilig, heilig“ lässt Stephan ihn jedoch einen irrwitzig hohen Schlusston im Falsett fisteln, auch bei ihm stimmt doch etwas nicht. Die von der Celesta weiter transzendierten sphärischen Klänge sind süß, sie behalten aber auch immer etwas Unwahrscheinliches, Unheimliches.

Borngräbers „erotisches Mysterium“ hingegen ist bei Kratzer kein verblümtes Versteckspiel in Klingsors Garten. Kajin findet im ausgebrannten Wagen ein anregendes Heftchen, in das auch Chabel nachher reinschauen wird. Chabel und Chawa werden auf dem Rücksitz miteinander schlafen, bis Kajin ihnen dazwischenkommt.

Aber zusammen mit Stephans Musik findet auch Kratzer zu einem Funken Hoffnung am Ende. Adahm und Chawa kommen sich wieder näher, Adahm schließt die Luke von außen. Jetzt wird es wohl heißen, die verbrannte Gegend wieder bewohnbar zu machen. Und wie traditionell in der „Götterdämmerung“ tauchen plötzlich von überall her weitere Menschen auf und nehmen erleichtert und der Zukunft zugewandt die Gasmasken ab. Es hat eine groteske Note, dass Kajin, der so ausführlich die Welt nach einem wilden, wilden Weib absuchte, all diese netten Menschen, viele Frauen in Kajins Alter darunter, verpasst haben sollte. Aber die Musik ist gar nicht grotesk, sie ist groß, und sie will uns ans Herz greifen, und so kommt es auch.

Zum großen Schlussbeifall winkte Weigle in Frack und Turnschuhen zu Recht auch das Orchester auf die Bühne, das für die Farbenpracht im nebeligen Dunkel gesorgt hatte. Außerdem tauchte OB Mike Josef auf und ernannte Weigle zum Ehrenmitglied der Städtischen Bühnen. Das haben sich wenige verdient, aber Weigle schon. Er dankte seinem Orchester, das er als fit, wach, klug und nett dermaßen lobte, wie man selbst auch gerne einmal im Leben gelobt würde. Auch dankte er dem Intendanten Bernd Loebe, mit dem es immer eine Freude gewesen sei. Alles ist auf einen guten, bloß vorübergehenden und dann immer wieder einmal zu unterbrechenden Abschied eingestellt

Oper Frankfurt: 6., 9., 12., 15., 17., 20. Juli. www.oper-frankfurt.de

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