Händels „Semele“ in München :
Sie will doch nur unsterblich sein

Von Christian Gohlke
Lesezeit: 4 Min.
Vorsicht: Bei einem derart blank geputzten Boden droht selbst der beste Wedding-Planer auszurutschen. Szene aus der Münchner „Semele“-Inszenierung
Die Münchner Opernfestspiele zeigen Georg Friedrich Händels „Semele“ in einer düsteren Neudeutung. Dabei war dem Staatsorchester anzuhören, dass hier zuletzt nur noch sehr selten Händels Musik gespielt wurde.

Ein „Brauser und Löser“, ein „Jauchzer und Johler“ soll er sein, der „Vater des Jubels“, der Gott des Weines und der Trunkenheit. So nennt ihn Ovid in den „Metamorphosen“, in deren drittem Buch die Geschichte seiner ­Zeugung erzählt wird. Semele begehrt von ihrem Geliebten Jupiter, in den Rang der Unsterblichkeit erhoben zu werden, weshalb er sich ihr in göttlicher Gestalt zeigen soll. Dem Übermaß ­dieses ­Glanzes hält sie nicht stand und verbrennt zu Asche. Aber die Frucht dieser letzten Begegnung bleibt am Leben; es ist Dionysos.

Zahllose Fassungen und Varianten gibt es von diesem Mythos. Eine stammt von dem englischen ­Dichter William Congreve. Die für 1707 geplante Premiere fand niemals statt. Doch Jahre später griff Georg Friedrich Händel auf just dieses Libretto zurück und komponierte 1743 in wenigen ­Wochen „Semele“, eine „Oper nach Art eines Oratoriums“, wie es im Untertitel heißt.

Dieses selten gespielte Werk ist jetzt im Münchner Prinzregententheater als zweite Festspielpremiere (in Kooperation mit der Metropolitan Opera New York) neu inszeniert worden. Die Bayerische Staatsoper knüpft damit an eine vom früheren Intendanten Sir Peter Jonas in den 1990er-Jahren begründete Barock-Tradition an. Dass an der Münchner Oper zuletzt allerdings nur sehr selten noch Händels Musik gespielt wurde, war dem Staatsorchester freilich anzuhören. Es blieb fast während des gesamten Abends unter der Leitung von Gianluca Capuano, der durchaus ein Spezialist für Alte Musik ist, rhythmisch eher schwerleibig, vor allem aber allzu kompakt und pauschal im Klang.

Ein Akt gewaltsamer Befreiung

Diesem orchestralen „molto grave“ entsprach eine düstere, ins Extreme gehende, in sich aber stimmige Inszenierung. Semele ist bei Claus Guth eine Frau, „die das Unmögliche sucht und gefangen ist in einer Welt, in der das nicht vorgesehen ist“. Deutlich wird dies gleich im ersten Bild: Ihre arrangierte Hochzeit mit Athamas soll in einem weißen, stuckverzierten Festsaal begangen werden, der mit seinen fensterlosen Wänden einen geradezu hermetisch geschlossenen Eindruck macht (Bühne: Michael Levine). Ein „wedding planner“ arrangiert in munterer Betriebsamkeit die maskenhaft frohen Gäste, die vor Buchstaben aus künstlichen Rosen für Fotos posieren und dabei mit ihren Händen Herzen formen. Vater Cadmus (Philippe Sly) fordert mit bassgewaltigem Nachdruck Gehorsam: „Daughter obey!“, der klangschöne, harmonisch ausgewogene Chor assistiert mit Hochzeitsjubel, und der Bräutigam sieht die Fackel der Brautnacht schon entzündet.

Doch auf dem spiegelglatten, aseptischen Fußboden liegt als Fremdkörper eine schwarze Feder. Für Semele eine Erinnerung daran, dass es jenseits dieser konfektionierten Welt noch eine andere Wirklichkeit gibt, ist sie doch ein stummes Zeugnis ihrer Liaison mit Jupiter, der sie einst in Gestalt eines Adlers entführte. Auch jetzt, glaubt Semele, wird sie der Gott nicht diesem Menschenlos von allzu kleinem Karo preisgeben. Die unglückliche Braut entledigt sich panisch ihres starren Kleides, greift zur Axt, um damit eine der weißen Wände (und womöglich auch das gefrorene Meer in sich selbst) zu zertrümmern. Ein Akt der gewaltsamen Befreiung. Eine neue, unbekannte, sehr andere Welt tut sich auf.

Sehnsucht mit fatalen Folgen

In Claus Guths Lesart erscheint die Protagonistin als eine manisch-depressive, beinahe pathologische Figur am Rande des Wahnsinns. Die große Arie „Endless pleasure, endless love“ wird bei Brenda Rae zum Ausdruck eines schon verzweifelten, von hysterischem Gelächter begleiteten Ungenügens. Dabei bleiben trotz stupender Beherrschung der Technik die musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten der Sängerin hinter ihren phantastischen darstellerischen Fähigkeiten zurück, denn ihre Stimme ist eigentlich zu klein für diese dramatische Partie. Diese Getriebene findet selbst im Zusammensein mit Jupiter kein Genügen, obwohl er mit größter Dienstfertigkeit ihren unziemlichen Wunsch nach Höherem zerstreuen will („I must with speed amuse her“) und sich später in zärtlicher Sorge um sie ergeht ­(„Where’er you walk“).

Michael Spyres singt diese Partie mit so kraftvollem wie geschmeidigem Tenor, der warm flutend, auf langem Atem getragen mühelos den Raum erfüllt. Doch Semele will das Unbedingte, will Unsterblichkeit und verzehrt, verbrennt sich buchstäblich an diesem Wunsch. Zurück bleibt eine gebrochene Figur, die mit leerem Blick das Geschehen um sich herum kaum mehr wahrnimmt.

Am Ende wird im bekannten Stil wieder Hochzeit gefeiert. Nicht mehr die ihre zwar, aber die ihrer Schwester Ino (mit kraftvollem Mezzo: Nadezhda Karyazina), die nun halt selbst mit Athamas den Bund fürs Leben eingehen wird. Jakub Józef Orliński stimmt im weißen Seidenanzug freudig zu und darf seinen kerngesunden und kräftigen, dynamisch mitunter etwas unausgeglichenen und ein wenig monochromen Countertenor noch einmal in eine grelle Höhe steigen lassen. Für Semeles Schicksal hat die versammelte Festgemeinde alsbald das passende Etikett gefunden: „Nature to ech allots his proper sphere, / But that forsaken we like meteors err“. Der Riss scheint gekittet, die Welt wieder in den Fugen. Doch das Kind, das Semele im Schoße trägt, wird den Menschen bringen, wonach seine Mutter sich mit fatalen Folgen sehnte: die Flucht aus einer schalen und banalen Wirklichkeit. Ekstase. Durch Wein, durch Rausch – und, im glücklichsten Falle, die Kunst des Theaters.