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Kultur Wagner-Festspiele – Die Kritik

Wie aus einer Mücke ein „Parsifal“ gemacht wird

Freier Feuilletonmitarbeiter
„Es flogen Totenköpfe, Kalaschnikows, Plastikdosen herum – viel zu viele Effekte“

Die Bayreuther Festspiele erschließen virtuelle Welten: Die neue „Parsifal“-Inszenierung zeigt, was technisch alles möglich sein kann in der Oper. WELT-Autor Peter Huth kommentiert Jay Scheibs Augmented-Reality-Inszenierung.

Quelle: WELT

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Jay Scheib treibt mit Augmented Reality bei den Bayreuther Festspielen das visuelle Erleben voran. Wagner hätte an dieser Erweiterung der Theatererfahrung sicher seine Freude gehabt – aber wieder mal ist es das Hören, das besonders begeistert.

Die allerliebst ferngesteuerte Gralsente hat ein Gralsentenkind und alle andern haben sich ausnahmslos in der aus Wollresten verfertigten Gralsburg lieb. Dort, wo der Gral sich als silbriger Flitter erweist, der alle welken Blumen wieder blühen lässt, und nun ein reiner Tor als ihr neuer König regiert.

In der Bayreuther Kinderoper, inzwischen auch schon seit vielen Katharina-Wagner-Jahren eine gute, inklusive und immens populäre Tradition, ist bei der ersten von zwei „Parsifal“-Premieren an diesem denkwürdigen Festivalauftakttag alles so knallhart analog wie nur möglich.

„Soll der Gral die Kraft dir schenken, lass dich nicht ablenken“, reimholpert die hinzuerfundene, schon am Einlass die Karten abscannende Kräuterheilerin, und alle gut gelaunt der dramaturgisch gekonnt auf 77 Spielminuten eingedampften Weihefestspielhandlung folgenden Kinder schreien ausgelassen mit. Von heißen, erkenntnisreichen Küssen mit einer sexy Höllenrose, entmannten Potentaten, seltsam sektiererischen Kunstreligionen und männerbündischen Ritualen weiß man hier (noch) nichts.

Verfolgen Sie hier den Bayreuth-Liveticker von Peter Huth:

Hey, ist das auch zunächst eine Freude, wie im großen, heiligen Festspielhaus sich die (natürlich auch nur künstlich erfundene) Bühnenwirklichkeit zur technisch raffinierten Augmented Reality weitet – zumindest für die 330 (von 1974) ihr ausuferndes Seherglück Suchenden in den hinteren Reihen; inklusive Logenpromis wie Angela Merkel, Markus Söder, Ursula von der Leyen, Claudia Roth, Monika Grütters, Maria Furtwängler oder Gloria von Thurn und Taxis.

Die erblicken, haben sie sich an die komisch schweren, ladestromwarmen Minicomputerbrillen gewöhnt, plötzlich eine Art zweite Bühne. Da gibt es im dunkel sich dehnenden Zuschauerraum statt Wagners klassizistischen Seitensäulen samt Kugellampen links und rechts, oben und unten, man muss freilich den Kopf immer schön kreiseln lassen, allerhand zu entdecken: auf zweimal 180 Grad Betrachtungswinkel, aber nie als komplettes, das gesamte Blickfeld abdeckendes Panorama.

Da fliegen hurtig Gralstauben und schwerfällig, aber poesievoll im Kreis ein bluttriefend getroffener Schwan. Da gibt es gleich zu Anfang sich drehende, tanzende Glühwürmchen zum in sanften Motivwellen aufsteigenden Vorspiel. Diese für genau diesen nach wie vor magischen Ort komponierte Musik vom alten Tongiftmischer Richard tönt nicht nur unter dem präzise voranschreitenden Hügelgrabendebütanten Pablo Heras-Casado leise und betörend anziehungskraftvoll. Sie wird durch die virtuellen Bilder aus dem Computer noch transzendenter, weitet schon hier den Raum eben auch zur Zeit.

Bayreuth Festspiele 2023
Quelle: JoshuaHiggason
Bayreuth Festspiele 2023
Quelle: Enrico Nawrath

Ein Wald kahler Bäume, mittendrin dreht sich einer mit doppelter Krone, tut sich an den Seiten auf. Auf der von Mimi Lien eingerichteten Bühne, die ein wenig an die kahle Kochplatte Neu-Bayreuths vor Rundhorizont erinnert, sind eine abstrakte, sich später als Leuchtturm erweisende Stahlsäule, schlanke Stelen, der Gralssee (morgens bei den Kindern eine Zinkwanne mit Bubblebadkugeln aus Plastik) für den taff sein Leid tragenden, kahlen Amfortas Derek Welton und ein mit einem Strahlenkranz verschlossenes Loch für die Chorauftritte auszumachen.

Und Gralshüter Gurnemanz, der Sex hat! Nicht mit Kundry, aber offenbar mit einem anderen wilden Weib. Kommt erstere, reitet ein künstliches Pferd durchs Brillenbild, es flammt, es raucht. Und irgendwann schweben Schmetterlinge, tänzeln kunterbunte Irrlichter, rattern Paradiesklapperschlangen. Wir sehen real den neuerlich zum Niederknien in fließend wortdeutlichem Silberdunkelbass intonierenden Georg Zeppenfeld im gelben Gurnemanzrock. Meentje Nielsen hat außerdem Kundry einen spacigen Cruella-de-Vil-als-Walküre-Look verpasst und Parsifal in eine orangerote Signalweste gesteckt.

Während wir über diese wirklichen Bilder rätseln, kommen wir mit dem virtuellen Überangebot der Zeichen kaum mehr nach. Da laufen irgendwelche mal gemütlich tapsende, mal in Flammen stehende Pärchen durch den nur vorgegaukelten Raum. Es gibt immer mehr gepixelte Tiere und Pflanzen, ja, das ist ein Naturstück, das schwirrt, flirrt, schwebt und fegt mit Karacho durch die unechte Atmosphäre.

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Mit dem Bühnengeschehen verbindet sich dieser Reigen nicht realer Requisiten eigentlich nie, er kommentiert dieses höchst selten, liefert höchstens zusätzliche, immer neue Bildbrechungen. Da wird dann aus einer putzig die Brille abtastenden Mücke ein ganzer „Parsifal“ gemacht. Aber was lernen wir Mehrsehenden dabei?

„Wozu brauche ich einen Baum auf der Bühne, wenn ich Astrid Varnay habe?“, so hatte einst hier Wieland Wagner über seine legendär übergroße Brünnhilden-Protagonistin gesprochen. Jetzt haben wir die ausstrahlungsmäßig mindestens ebenso tolle Elina Garanca als ihren nicht mehr so ganz reinen Toren gekonnt um den Verführungsfinger und den Restkörper wickelnde Kundry auf der Bühne, dahinter thront sie nochmals als verdoppelnder Videofilm.

Und die glücklichen 330 haben zudem eine neckisch blinzelnde, offenherzige, weil hohle und anonyme Avatarin auf dem Schoß sitzen. Das ist nett und überraschend, aber deutungssatt macht es nicht. Obwohl sich vorher Klingsors Zauberschloss (der profunde Jordan Shanahan sieht darin mit seinem rosa Anzug und den braunen Löckchen wie LGBTQIA+-Moderator Riccardo Simonetti aus, singt den aber viel machomäßiger) eindrücklich in den Augenwinkeln als eine Art Betonstaudamm breitgemacht hat.

Bayreuth Festspiele 2023
Quelle: Bayreuther Festspiele

Nach einem durchaus animierenden ersten Akt muss man nämlich feststellen: Der Amerikaner Jay Scheib, gleichzeitig AR-Spezialist am Massachusetts Insitute of Technology (MIT) in Boston und erprobter Theater- wie Opernregisseur, ist sicher der richtige Mann für diese auch das Theater der Zukunft revolutionierende Technik. Und die findet, zumindest mit diesem ausführlichen Aufwand, am genau richtigen Ort der Ekstase wie der Extreme statt.

Denn der geniale Propagandist Richard Wagner, der nach dem ersten Eröffnungs-„Ring“ 1876 im nur seinen Werken geweihten Festspielhaus über die elendigen Illusionen seiner Bühnenbilder geflucht hatte und eigentlich das alles nach drei Zyklen wieder verbrennen wollte, hätte an dieser Erweiterung der Theatererfahrung sicher seine Freude gehabt. Nur konsequent also, wenn jetzt seine Urenkelin Katharina ein solches sicher zukunftsweisendes Konzept gegen alle Widerstände durchgeboxt hat. Aber es hätte doch in der Interpretation etwas mehr sophisticated ausfallen können.

Dabei ist der Aufwand für ein Opernhaus gewaltig; selbst wenn die künstlichen Computergrafiken bisweilen ruckeln, eine fliegende Eule etwa, die sich in den Schwanz beißenden Kobras oder der als letzter Zeuge aus der Natur im dritten Akt auf einem zweiten mythischen Abgrund eben über den Orchestergraben (was wäre das für eine „Rheingold“-Flussgrundlandschaft!) gähnend sitzende Fuchs; und wenn sie nicht so illusionistisch sind wie in Kinoblockbustern.

Da gibt es trotzdem mit Joshua Higgason einen der besten Videodesigner, die an die 400 einzelnen Cues für die Brillen müssen extra von einem AR-Inspizienten veranlasst werden. Ohne die studentischen Hilfskräfte des MIT wären da zudem schnell eine Million Euro nur für das zusätzliche Bildmaterial fällig gewesen. Und bei 1000 Euro pro AR-Brille hätten die für alle nochmals 1.974.000 Euro gekostet …

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So musste jetzt, damit alle Kartenkaufenden ein gleichwertiges „Parsifal“-Erlebnis haben, unabhängig auf zwei Ebenen gearbeitet werden. Da gibt es nun also die eher statische Bühneninszenierung Jay Scheibs. Die ist Bayreuther Durchschnitt, besser als das Weltreligionen-Blabla Uwe Eric Laufenbergs jüngst; aber lange nicht so gut wie das verschroben-kunstreligionsvisionäre Konzept Christof Schlingensiefs 2004 oder ab 2008 das mit seinen bombastischen Dauerverwandlungen durch die Rezeptionsgeschichte die Technik an die Analoggrenze bringende von Stefan Herheim.

Scheib erzählt gemächlich das Wagner-Libretto kritisch modern nach. Im zweiten Akt ist er mit seinen Hippie-Blumenmädchen im penetrantrosa Barbie-Land, das in Blumenkaskaden und vegetativen Jungfrauen explodiert, ebenso sehr Amerikaner wie im dritten mit seiner Anklage der Umweltsünden im jetzt verfallenen, zwischen Militärschrott und giftiggrüner Quellenbrühe schwärenden Gralsgebiet.

Dazu kann man viel im Programmheft lesen, oder den dahinsegelnden Gefriertruhen, Autobatterien, Schnellfeuerwaffen, Plastiktüten und Öldosen zusehen. Beim Karfreitagszauber aber putzen sich die Lämmlein-Video-Wiedergänger auf einer waldbeerenroten und grünen Aue, durch die wiederum Leuchtfeuer raspeln, betende Hände sich recken oder zur Michelangelo-Schöpfung nacheinander greifen. Wasserfälle und Blutfontänen sprudeln, vieles ist aber überflüssig oder zu oft gesehen.

Wenige Regiebuhs, viel begeisterter Applaus

Schön und klug freilich die beiden Aktfinale, wenn plötzlich Hieronymus-Bosch-Elemente, brünstige Beeren, Blasen mit nackten Paaren, ein Speer mit Ohren aus dem „Garten der Lüste“ Klingsors Zaubergün bebildern. Oder wenn ganz am Ende Parsifal und die gelbrocktragende Kundry, freilich jede(r) für sich, im Taufbecken vor einer (neuen?) Menschheit verharren, nachdem er den blauen, neben diversem Reliquientinnef angebeteten Gralskristall hat fallen und zerbrechen lassen. Während sich auch zu Gurnemanz wie zu Papageno sein liebes Weibchen als Herzenstäubchen gesellt und – Kitsch lass nach! – die Gralstaube nach einem letzten Verklärungsmoment vor der bereits geschlossenen Wagnerkurtine in einer Strahlengloriole verglüht.

Wenige vereinzelt blökende Regiebuhs. Viel begeisterter Applaus. Für Eberhard Friedrichs famos schlanke, doch satten Chöre. Für den bassmunteren Titurel von Tobias Kehrer. Für die faszinierend kalkulierte, trotzdem rührende, mit einem schier unendlichen Nuancenreichtum ihre Kundry (die erst zweite überhaupt!) gestaltende Elina Garanca. Für Andreas Schager als ungewohnt pianoverklärten, sorgfältig phrasierenden Parsifal ohne jede Haudrauf-Allüre.

Vor allem aber für das eminent gekonnte, überlegte und doch natürlich fließende Dirigat Pablo Heras-Casados, eines der bedeutsamsten Bayreuth-Debüts der vergangenen Jahre. Der bringt das Kunststück fertig, mit dem ruhigen, aus der Mitte der Holzbläser seine Kraft ziehenden Festspielorchester zugleich weihevoll zu sein und doch rasch zu bleiben.

Da stimmten die sorgfältig ausbalancierten Übergänge, da wird lieber zu leise, aber soghaft statt einfach nur laut musiziert. Das „Parsifal“-Mysterium ist bei ihm ganz eines aus der Musik, aus verschwimmenden Harmonien, ohne schweres Parfüm oder schwülen Weihrauch. Und Jay Scheib hat einen „Parsifal“-Deutungsanfang gesetzt. Den gilt es jetzt, mit hoffentlich mehr AR-Brillen, im nächsten Jahr fortzuentwickeln. Ganz bayreuthwerkstattgemäß.

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