Pasifal Bayreuther Festspiele
Barbie-Pink trendet auch in Bayreuth. Bühne von Mimi Lien, Kostüme Meentje Nielsen.
Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Da kommt er angeflogen, der Speer. Der Zuhälter Klingsor, pretty in pink, hat die spitze Reliquie abgefeuert – eigentlich in Richtung Parsifal, der gerade dabei ist, Klingsors Langzeitprojekt zu gefährden: die Übernahme des Gralstempels samt Kelch. Doch nun hält der Speer direkt auf das Auge des berichterstattenden Betrachters zu. Heilige Katharina, hilf! Doch Frau Wagner ist für diesen Notruf ja eigentlich die falsche Adresse, hat die Festspielleiterin die persönliche Bedrohung ihres Publikums ja höchstselbst ins virtuelle Leben gerufen.

Nach Christoph Schlingensief, Stefan Herheim und Uwe Eric Laufenberg hat die 45-Jährige Jay Scheib damit beauftragt, das Bühnenweihfestspiel ihres Urgroßvaters am Grünen Hügel szenisch zu interpretieren, einen versierten Regisseur und Professor am Massachusetts Institute of Technology. Der Wagner-Sager "Kinder, macht Neues!" wird in Bayreuth so oft zitiert wie der Begriff der "Werkstatt". Unter Scheibs Regie wurden die Festspiele zur virtuellen Werkstatt.

Rund ein Sechstel der knapp 2.000 Sitzplätze wurde mit Anschlüssen für Augmented-Reality-Brillen ausgestattet – mehr ließ das knappe Festspielbudget nicht zu. Blickt man in die Reihen der bebrillten Zuschauer, meint man, auf einem Kongress von KGB-Agenten gelandet zu sein. (Ein bemerkenswertes Detail: In Russland benennt ein Milliardär seine Söldnertruppe nach Richard Wagner, und Microsoft entwickelt für die US-Armee gerade eine neue Generation von AR-Brillen für den Kampfeinsatz. In Bayreuth werden Komponist und Hightech für friedliche Zwecke zusammengespannt.)

Augmented-Reality-Brille und Barbie-Rosa

Eine AR-Brille ähnelt äußerlich einer Sonnenbrille, sie hat leicht verdunkelnde, durchsichtige Gläser, auf die grafische Inhalte eingespielt werden können. Zum "Parsifal"-Vorspiel tanzen winzige Sonnen im Raum: schön! In weiterer Folge wähnt man sich oft wie im Weltraum, da im Lauf der sechsstündigen Aufführung alle möglichen Dinge vorbeischweben: rote Blutkörperchen, abgeschossene Schwäne, Blumen, Gesteinsbrocken, Elektroschrott und Plastiksackerln (AR und Video: Joshua Higgason). Überblendungen atmosphärischer Art zeitigen bereichernde Effekte, doch leider ist der virtuelle Bühnenraum zu oft auf monotone Weise mit realen oder symbolischen Objekten zugestellt. Da lüpft man gern kurz die Brille und schaut ablenkungsfrei vorbei auf die ganz normale Bühne. Und die ist eh auch super.

Denn Mimi Lien hat hier tolle Bilder geschaffen: eine kahle, schwarze Welt mit einem monolithischen Turm für den ersten Aufzug, im zweiten einen farbkräftigen Zaubergarten, um den man den kastrierten Besitzer beneidet. Die Blumenmädchen tragen die Barbie-Trendfarbe Rosa (Kostüm: Meentje Nielsen). Großprojektionen von Live-Videobildern bilden den Hintergrund der Bühne und ermöglichen nahe Einsichten. Die Bergbaumaschine, die im letzten Aufzug dominant ist, verweist auf den kardinalen Interpretationsweg der Regie. Der Gral ist ja die zentrale Energiequelle einer Gemeinschaft, und für Scheib sind das heutzutage Elemente wie Kobalt und Lithium, die im nach elektrischer Energie gierenden, überhitzten Anthropozän von zentraler Wichtigkeit sind. (Bei Wagner war die wahre Energiequelle des Männerverbunds auf Monsalvat noch die Keuschheit.)

Parsifal als vokaler Kraftkerl

Auch der Heilige Gral ist bei Scheib ein werthaltiger Stein. Aber nachdem Parsifal ihn am Ende enthüllt hat, knallt er ihn sofort auf den Boden. Ka-wumm! Doch der durch Mitleid wissend gewordene reine Tor deutet sogleich auf den Sonnenkreis, den zentralen Beleuchtungskörper der Leidensgemeinschaft. Da kommt der Saft in Zukunft her, Brüder und Schwestern!

Pasifal Bayreuther Festspiele
Andreas Schlagers Parsifal ist ein Kraftkerl, Elīna Garanča legt als Kundry ein fulminantes Bayreuth-Debüt hin.
Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Andreas Schager war und ist in Bayreuth für seine Paraderolle, den Siegfried, gebucht; den Parsifal hat er nach der Absage von Joseph Calleja noch schnell dazugenommen. Der Österreicher zeichnete ihn als vokalen Kraftkerl, einen vitalen Retter eines mürben Regimes wie auch Siegfried. Wie eine Heilsbringerin wurde auch Elīna Garanča gefeiert, die mit der Kundry ein fulminantes Bayreuth-Debüt hingelegt hat: Die Lettin war im zweiten Aufzug eine Verführerin von luxuriöser Laszivität, makellos und doch sinnlich, wild und doch stolz. Und bei den Spitzentönen musste sie sogar kurz aus der Komfortzone raus.

Mit Noblesse erzählt vom Waffenschmied

Den Gesangsanteilen nach müsste Wagners letzte Oper "Gurnemanz" heißen: Der Waffenknecht des Altgralskönigs Titurel erzählt die halbe Oper, was vorher passiert und was wichtig ist. Georg Zeppenfeld fungiert am Grünen Hügel seit Längerem als Lordsiegelbewahrer des Wagner-Gesangs, und von notarieller Noblesse war auch sein Gurnemanz geprägt – etwas zu sehr. Frischen Wind brachte hingegen Jordan Shanahan ins Geschehen ein: Der Hawaiianer gab den Klingsor mit der diabolischen Vitalität eines Jack Black; prägnant, dringlich und stark sein Bassbariton. Im Leiden sanft, im Aufbegehren dagegen mächtig: Derek Welton als zentraler Sündenfall der Oper, als durch fleischliche Lust verwundeter Gralskönig Amfortas. Zusammen mit dem fulminanten Chor: eine fantastische Sängerleistung.

Georg Zeppenfelds Gurnemanz ist – etwas zu sehr – von notarieller Noblesse geprägt.
Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Neue Interpretationswege und ein Plastiksackerl beglücken

Im verdeckten Orchestergraben brachte Pablo Heras-Casado in Bayreuth eine neue Note ins Spiel: Frühromantisch behutsam, leichtgliedrig und pastellfarben ließ er das Festspielorchester im ersten Aufzug musizieren; atemberaubende Moment der Zärtlichkeit und Herzenswäre gab es im dritten. Der vielseitige Spanier präsentierte einen Wagner, der mit Menschlichkeit bezauberte und nicht die Überwältigung suchte. Im ersten Sommer seit 23 Jahren ohne Christian Thielemann hat man in Bayreuth neue Interpretationswege gefunden, die ebenfalls zu beglückenden Zielen führen.

Und auch das erste Festspielexperiment mit Augmented Reality hat sich als bereichernd, wenn auch als noch nicht ganz ausgereift erwiesen. Neben der Taube schwebte am Ende ein weißes Plastiksackerl als letztes Objekt durch den virtuellen Raum, es wird uns alle überdauern. Die "Scheune" erbebte danach vor Freude, nur die Regie wurde vereinzelt ausgebuht. Ganz real, nicht virtuell. (Stefan Ender aus Bayreuth, 26.7.2023)