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Parsifal bei den Bayreuther Festspielen 2023. Foto: © Bayreuther Festspiele / Joshua Higgason

Parsifal bei den Bayreuther Festspielen 2023. Foto: © Bayreuther Festspiele / Joshua Higgason

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Taube an Plastiktüte … Die Richard-Wagner-Festspiele eröffnen mit einem innovativen „Parsifal“ mit oder ohne Blickerweiterung

Vorspann / Teaser

War das nun so ein Festspielmoment aus der Rubrik: „…und ihr könnte sagen, ihr seid dabei gewesen“? Zumindest für die 330 Zuschauer im Festspielhaus, die eine der AR-Brillen wollten bzw. ergattert hatten? Durch die wurde nicht nur die Bühne zum Ort des Geschehens, sondern der ganze Saal.

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Es war auf jeden Fall ein Beispiel für das berühmte „Kinder, macht Neues!“ von Festspielgründer und „Parsifal“-Schöpfer Richard, das so gerne zitiert und von seiner Urenkelin Katharina Wagner als Festspielchefin mit diesem Experiment beherzt umgesetzt wurde.

Technisch hat das Ganze funktioniert. Durch die Anpassung der Brillen an die individuelle Sehstärke der Nutzer boten sie tatsächlich eine Blickerweiterung. Ein paar mal sogar interaktiv. Da konnte jeder für sich bestimmten, welche Pflanzen sich wie im Wind bewegen oder wohin die Taube fliegen sollte. Eine Zeitlang war oben links der Mond zu sehen, einmal räkelte sich beim Blick nach unten plötzlich eine Frauenfigur ziemlich lasziv zwischen den Beinen. Das Auftauchen von Kundry im Gralsbezirk machte Effekt, der Schwan natürlich auch. Der Riesenvogel raste wie ein Kleinflugzeug auf die Zuschauer zu und als der Pfeil des reinen Toren ihn traf, spritzte das Blut nur so. Allerdings flogen die Schwäne und die Pfeile auch dann noch, als die Sache schon erledigt war. Da war die Freude am Motiv bei Regisseur Jay Scheib wohl einfach zu groß, um sich zu mäßigen.

Damit hatte diese Blickerweiterung überhaupt ein Problem. Und bei all dem flatternden Insekten, die dauernd durch den Raum flogen, war man schnell bei dem geflügelten Wort: Mehr Inhalt, weniger Kunst (sprich: Bildschirmschoner-Gewusel). Im dritten Aufzug lässt Scheib eine Plastiktüte durch den Raum treiben und als optisches Leitmotiv mit der Taube konkurrieren. Vielleicht ist es ja die aus der Schlussszene des US-Film-Hits „American Beauty“? Und nach all den (irgendwie ziemlich dilettantisch wirkenden) Avataren, Schädel- und Skelettteilen, weißen Lichtpunkten, roten Blutkörperchen, Schlangen, die sich in den Schwanz beißen, den diversen Blüten (vor allem Lilien), die mehr oder weniger nah an ihren natürlichen Vorbildern erblühen, ließen die Granatäpfel, die gleichsam explodieren, Handgranaten, die genau das nicht tun, Maschinenpistolen, Batterien und ähnliche „Errungenschaften“ der Zivilisation, deren zweite Natur Müll ist, durchaus eine Art Interpretation oder Anliegen erahnen. Und damit über das meist statische, von Mimi Lin (Bühne) und Meentje Nielsen (Kostüme) vor allem knallbunt in Szene gesetzte Bühnenarrangement hinausgeht. Den Gral selbst als blauen (Kobalt-)Kristall, unter dem geheimnisvoll schwebenden Riesenrund aus (Licht-überm-See)-Neonleuchten, lässt Parsifal am Ende bewusst fallen und zersplittern. Für Titurel zumindest war er im ersten Aufzug ein wahrer Jungbrunnen. Dazu werden zur Enthüllung die Insignien des Kultes, die in der hiesigen Vorgängerinsznierung entrümpelt wurden, um der Menschheit, ein Licht aufgehen zu lassen, alle wieder hervorgeholt. Dass Parsifal und Kundry in dystopischer Landschaft im vergifteten Wasser am Ende aufeinander zugehen und vielleicht eine gemeinsame Zukunft haben, hat man schon überzeugender gesehen. Dass auch Gurnemanz seine von Scheib aufgespürte Freundin aus dem Vorspiel in den Armen hält, noch nicht. Ein Happyend in der dystopischen Welt dieses Schlussbildes ist aber eher fraglich. 

Die großen Chancen mit dem Zaubergarten (im erweiterten Brillenraum ein paar Lilien) oder dem Wurf des warum auch immer verbogenen Speeres am Ende des zweiten Aktes schaffen es nicht in eine echte Zusatzdimension. Dass es das Festspielhaus selbst ist, das mit dem Untergang Klingsors zu Bruch geht, ist eher ein Kalauer. 

Richtig ärgerlich war die Brille, als die Baumstämme in der Brillenwirklichkeit des zweiten Aufzuges Kundry Elīna Garanča und Parsifal Andreas Schager verdeckten. Spätestens da war die Verführung groß, die Brille einfach abzusetzen. Oder man hatte bis dahin die Technik entwickelt, unter der Brille durch die Bühne samt der dortigen Großleinwand mit tollen Nahaufnahmen abwechselnd auch pur zu sehen. Interaktives Sehen gewissermaßen …

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Parsifal bei den Bayreuther Festspielen 2023. Foto: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Parsifal bei den Bayreuther Festspielen 2023. Foto: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

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Da lohnte es sich nämlich unbedingt, zu dieser Sternstunde des Wagnergesangs, auch zu sehen, wie beide (wohl mehr ihren Erfahrungen, als Regievorgaben folgend) das in eine berührende Gestaltung umsetzten. Nicht nur dieses Großduett gelang ihnen phänomenal. Garanča sowieso und nach ihrem Wiener Kundrydebüt nicht überraschend. Aber auch Schager donnerte nicht einfach drauf los, bändigte seine Kraft durch Gestaltungswillen, bot sogar leise Töne. Das war eine seiner bislang besten Vorstellungen! Wenn kurzfristige Umbesetzungen zu solchen Resultaten führen – nur zu!

Georg Zeppenfeld hielt wieder seinen Meisterkurs in Textverständlichkeit. Ein Gurnemanz mit Referenzqualität in Hochform! Auch sonst durchweg ein Festspielniveau. Derek Welton als leidend aufmüpfiger Amfortas, Tobias Kehrer als sogar richtig mitspielender Titurel, Jordan Shanahan als diabolischer Klingsor. Dazu sämtliche Gralsritter, Knappen und Zaubermädchen. Alle handverlesen, mit dem Ehrgeiz ihre Partien wahrnehmbar zu profilieren. Besonders der von Eberhard Friedrich auf den Punkt fabelhaft einstudierte Chor ist hier ein vokaler Hochgenuß. 

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Parsifal bei den Bayreuther Festspielen 2023. Foto: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Parsifal bei den Bayreuther Festspielen 2023. Foto: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

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Bleibt der Graben für den Wagner ja seinen „Parsifal“ maßgeschneidert hat. Über das szenische Experiment kann man streiten (oder auch nicht), über das Debüt von Pablo Heras-Casado aber nicht. Mit 1.37 für den ersten Aufzug recht zügig, doch ohne dass es je gehetzt wirkte, transparent und gradlinig, mit den Protagonisten atmend. Auch, wenn er zulangt, wird es nie Lärm, sondern bleibt Musik. Besser kann man sich ein Hügeldebüt kaum denken! So sollte Parsifal klingen. Dann hält er auch optische Experimente aus. Das Premierenpublikum sah das genauso. 

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