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Musikfestspiele
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Bayreuther Festspiele 2023
24.07.2023 - 28.08.2023

Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg

Große romantische Oper in drei Akten
Text und Musik von Richard Wagner

In deutscher Sprache

Aufführungsdauer: ca. 5 h 5' (zwei Pausen)

Wiederaufnahme im Festspielhaus Bayreuth am 28. Juli 2023
(Premiere der Produktion: 25.07.2019)


Bayreuther Festspiele 2011 / Übersicht

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Anarchie versus Tradition

Von Thomas Molke, Fotos: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

"Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Geniessen": Dieses Zitat aus Richard Wagners Schrift Die Revolution aus dem Jahr 1849 scheint als Idee über der Inszenierung von Tobias Kratzers Tannhäuser zu stehen, die 2019 auf dem Grünen Hügel Premiere feierte und von der man im vierten Jahr - 2020 konnte die Produktion wegen der Corona-Pandemie bekanntlich nicht gespielt werden - eigentlich Abschied nehmen sollte. Rechtzeitig zu Festspielbeginn wurde aber bekannt gegeben, dass die Produktion auch im nächsten Jahr noch einmal auf dem Spielplan steht, was ein echter Gewinn ist. Denn nach der letzten missglückten Produktion von Sebastian Baumgarten aus dem Jahr 2011, die in einer Biogasanlage spielte, findet Kratzer mit seinem Team Rainer Sellmaier (Bühne und Kostüme) und Manuel Braun (Video) einen Ansatz, der auf ganzer Linie begeistert. Kratzer legt dabei weniger den Schwerpunkt auf den Konflikt zwischen "Hure und Heiliger", der in zahlreichen Inszenierungen bei den beiden Figuren Venus und Elisabeth im Mittelpunkt steht, sondern präsentiert zwei unterschiedliche sich widersprechende Lebenskonzepte, die man vielleicht mit Anarchie auf der einen Seite und Tradition auf der anderen überschreiben könnte. Damit nähert sich Kratzer der Geschichte absolut spannend und hat tatsächlich etwas Neues zu erzählen, was sich durchaus aus dem Libretto herauslesen lässt.

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Le Gateau Chocolat (Le Gateau Chocolat) plakatiert als Schneewittchen das Motto der Venus-Gesellschaft.

Der Venusberg, in dem sich Tannhäuser zu Beginn der Oper befindet, ist bei Kratzer kein spezieller Ort, sondern eine Gruppe von Grenzgängern, die aufgrund von körperlicher oder sexueller Andersartigkeit nicht in ein Lebenskonzept passen, das durch Tradition reglementiert wird. Dazu führt Kratzer zwei Figuren ein, die im Libretto zwar nicht vorkommen, aber zu einem elementaren Bestandteil der Geschichte werden: den kleinwüchsigen Oskar (Manni Laudenbach) als Kunstfigur aus Günter Grass' Die Blechtrommel, der beschlossen hat, auf ewig Kind zu bleiben und nicht mehr zu wachsen, dabei aber durchaus die Sexualität eines Erwachsenen entwickelt, und Le Gateau Chocolat, einen dunkelhäutigen Drag Artist. Diese beiden verkörpern anschaulich eine Welt, die mit konventionellen Traditionen bricht und in einer heutigen "Wartburg-Gesellschaft" mehr Empörung und Ablehnung auslösen kann, als das mit sexueller Freizügigkeit möglich ist. Venus ist an die Performance-Künstlerin Marina Abramović angelehnt, die in ihrer Kunst Grenzbereiche austestet und dabei auch häufig überschritten hat. In Anlehnung an Abramović lässt Kratzer Venus gemeinsam mit ihren Gefährten in einem alten Citroën-Van durch die Gegend fahren und findet dabei zur Ouvertüre großartige Bilder.

Zunächst sieht man zu den hehren Klängen, die die traditionelle Wartburg beschreiben, in einem Video von Manuel Braun pittoreske Luftaufnahmen von der Wartburg. Die Kamera schwenkt weiter über den Thüringer Wald und das Publikum wähnt sich in einem nahezu paradiesischen Zustand. In diesem Ambiente wollte man die Geschichte immer schon einmal erleben. Dann bricht das Venus-Motiv in die Musik ein, und der Van wird sichtbar, der durch den Thüringer Wald fährt. Venus sitzt am Steuer und Tannhäuser auf dem Beifahrersitz. Er ist als Clown verkleidet, was ihn zu einem Grenzgänger zwischen Komik und Tragik macht. Er muss sich folglich ein wenig verstellen, um in diese andere Welt hineinzupassen. Zunächst genießt Tannhäuser das freie Leben an Venus' Seite. Das Video geht in Live-Bilder auf der Bühne über. Man sieht den Van auf der Bühne, der über eine dahinter projizierte Straße fährt. Le Gateau Chocolat steigt während der Fahrt aus, um neben dem Fahrzeug herzulaufen.  Nach diesem kleinen Einschub folgt eine weitere Filmsequenz. Man braucht Benzin und etwas zu Essen. Während Venus an einem Drive-In von Burger King anhält und für horrende Summen Essen und Getränke ordert, schleichen sich Manni und Le Gateau Chocolat in ein Parkhaus, um aus dem Tank eines Autos Benzin zu stehlen. Dabei werden sie von einem Wachmann überrascht und fliehen zurück zum Bus. Venus beschließt gerade, die Zeche zu prellen und mit den Einkäufen abzuhauen, als sich der Polizist dem Van in den Weg stellt. Nun kommt der Moment, der Tannhäuser mit seinem Leben in dieser Gemeinschaft hadern lässt. Venus überfährt den Polizisten. Das ist für Tannhäuser zu viel. Enttäuscht zieht er sich ins Hintere des Vans zurück und nimmt neben dem Venusbild von Botticelli Platz, was wohl die Sehnsucht nach der alten Tradition darstellen soll.

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Tannhäuser (Klaus Florian Vogt) landet mit Venus (Ekaterina Gubanova) im Märchenwald

Am Ende der Ouvertüre ist man dann in einem Märchenwald angekommen. Auf der Bühne sieht man in einem pittoresken kleinen Häuschen Frau Holle, die ein Kissen aus dem Fenster ausschüttelt. Davor stehen in einem Garten Schneewittchens Zwerge. Le Gateau Chocolat lässt es sich nicht nehmen, ins Haus einzudringen und im Schneewittchen-Kostüm wieder herauszukommen. Während sich Venus an einen Tisch zum Essen begibt, bleibt Tannhäuser am Van zurück. Er ist dieses Lebens überdrüssig und will wieder in sein bürgerliches Leben zurück. Es kommt zum Streit zwischen ihm und Venus, an dessen Ende er aus dem fahrenden Auto springt. Man ist nämlich mittlerweile weitergefahren, nicht ohne auch im Märchenwald ein enormes Chaos zu hinterlassen. Wenn er dann auf der Straße aufwacht, befindet er sich in Bayreuth vor dem Festspielhaus. Der junge Hirt (Julia Grüter mit hellem Sopran), dem er begegnet, ist ein "blaues Mädchen", das Tannhäuser als Sänger aus der gleichnamigen Inszenierung kennt. Der Pilgerchor ist dann nicht auf dem Weg nach Rom, sondern pilgert ins Festspielhaus zu einer Aufführung des Tannhäuser, wie man an den Programmheften erkennen kann, die die Besucher*innen mit sich führen. Die übrigen Sänger sind ebenfalls froh, Tannhäuser wiederzutreffen. Schließlich fehlt ihnen für die Aufführung ja noch ein Tenor. Damit endet der erste Akt. Auch musikalisch bleiben hier keine Wünsche offen. Nachdem Klaus Florian Vogt am Tag zuvor noch als Siegmund in der Walküre begeisterte, punktet er auch als Tannhäuser mit hellem, klarem Tenor und einer wunderbar deutlichen Diktion. Ekaterina Gubanova stattet die Venus mit kraftvollem Mezzosopran aus und begeistert durch wunderbar anarchisches Spiel.

In der Pause bietet sie dann gemeinsam mit Laudenbach und Le Gateau Chocolat am See im Festspielpark ein kleines Programm der besonderen Art. Während Laudenbach in einem Schlauchboot trommelnd über den See rudert, heizt Le Gateau Chocolat dem Publikum gehörig ein und präsentiert musikalische Leckerbissen aus Musical und Pop-Musik. Mit profunder Tiefe glänzt er bei "Ol' Man River" und beendet seine Performance mit der Hallen-Arie aus dem Tannhäuser. Dazwischen macht Venus zu einem deutschen Schlager ihrem Frust darüber Luft, dass Tannhäuser sie verlassen hat. Im weiteren Verlauf fertigt sie dann das Plakat mit dem Wagner-Zitat "Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Geniessen" auf der Wiese an. Am See erscheinen auch einige als Festspielgäste getarnte Statist*innen, die sich auf Luftmatratzen in den See schmeißen oder am Rand des Ufers mit einem Picknickkorb Sekt trinken. So unterhaltsam hat man am Festspielhügel die einstündige Pause selten verbringen können.

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Eklat beim Sängerwettstreit auf Wartburg: auf der Bühne vorne: Tannhäuser (Klaus Florian Vogt), links daneben: Oskar (Manni Laudenbach), dahinter: Le Gateau Chocolat (Le Gateau Chocolat), ganz links auf der Bank: Venus (Ekaterina Gubanova) mit dem Festspielchor und den drei Edelknaben vorne (Cornelia Heil, Laura Margaret Smith und Karolin Zeinert)

Im zweiten Akt wird die Bühne dann geteilt. Für den Sängerkrieg hat Sellmaier eine absolut traditionelle Halle entworfen, die einer Mischung aus dem Festsaal und dem Sängersaal der konkreten Wartburg und damit auch historischen Inszenierungen nachempfunden ist. Darüber bietet eine Live-Kamera Blicke hinter die Kulissen und zeigt, was hinter der Bühne während der Aufführung geschieht. Man sieht den Inspizienten, der alles überwacht, und die Sängerinnen und Sänger, die sich von ihren Kabinen zum Auftritt begeben. So verfolgt man auch Elisabeth Teige als Elisabeth auf die Bühne, wo sie dann mit strahlendem Sopran die berühmte Hallen-Arie zum Besten gibt. Doch bei Kratzer ist es nicht Tannhäuser allein, der beim Sängerwettstreit den Eklat auslöst. Venus ist ihm mit dem Van bis zum Festspielhaus gefolgt und steigt über den Balkon mit Manni und Le Gateau Chocolat ins Haus ein. Zuvor befestigt sie aber noch das in der Pause angefertigte Plakat am Eingangsportal, das man dann zur zweiten Pause mit der Leiter dort vorfindet. Mit großartiger Komik dringen die drei in die Vorstellung ein. Venus überwältigt einen Edelknaben auf der Toilette und klaut das Kostüm. So stolpert sie auf die Bühne, ohne zu wissen, was sie in der Aufführung jetzt eigentlich machen muss. Gubanova entfaltet dabei eine großartige Komik, die auch in ihrer Mimik durch Nahaufnahmen der Kamera zum Ausdruck kommt. Als dann alles auf der Bühne aus dem Ruder läuft, informiert der Inspizient die Festspielleitung, und Katharina Wagner greift zum Hörer und wählt die 110. Kurz darauf sieht man Polizeiwagen den Hügel herauffahren. Nachdem die Polizisten einen Moment lang über das aufgehängte Plakat sinniert haben, stürmen sie den Saal und landen auf der Bühne. Tannhäuser wird abgeführt, während sich Venus, Manni und Le Gateau Chocolat in der allgemeinen Verwirrung aus dem Haus stehlen.

Auch der zweite Akt lässt musikalisch keine Wünsche offen. Markus Eiche punktet als Wolfram mit warmem Bariton, der seine Gefühle für Elisabeth deutlich macht. Man nimmt ihm zu jedem Zeitpunkt auch darstellerisch ab, wie sehr er darunter leidet, dass Elisabeth sich nur für Tannhäuser interessiert. Günther Groissböck, der schon in der letzten Produktion am Hügel als Landgraf Hermann zu erleben war, stattet den Landgrafen mit kraftvollen Tiefen aus und besticht durch eine klare Diktion. Der von Eberhard Friedrich einstudierte Festspielchor begeistert nicht nur in den großen Chorszenen durch homogenen Klang, sondern zeigt auch in den Nahaufnahmen der Live-Kamera großes komödiantisches Talent. Gleiches gilt für Vogt, der sich sichtlich genervt zeigt, wenn ihm diverse Chordamen bei seinem Abgang um den Hals fallen wollen. Auch die mimische Kommentierung von Wolframs Beitrag zum Sängerkrieg, der er hinter der Bühne mit den anderen Kollegen lauscht, zeigt großes darstellerisches Potenzial. Siyabonga Maqungo punktet als Walther von der Vogelweide mit weichem, hellem Tenor, und auch Ólafur Sigurdarson, Jorge Rodríguez-Norton und Jens-Erik Aasbø lassen als Biterolf, Heinrich der Schreiber und Reinmar von Zweter keine Wünsche offen.

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Elisabeth Teige als Elisabeth

Einen absoluten Bruch gibt es dann im dritten Akt. Hier ist dann im wahrsten Sinne des Wortes "Schluss mit lustig". Kratzer lässt diesen Akt absolut düster auf einer Müllhalde spielen. Oskar fristet hier ein trauriges Dasein in dem nicht mehr funktionstüchtigen Van. Seine Trommel dient nur noch als Suppentopf, um sich ein karges Süppchen zu kochen. Das Plakat mit den revolutionären Tönen dient nur noch dazu, sich nach dem Stuhlgang den Hintern abzuwischen. Im Gegensatz zu ihm hat Le Gateau Chocolat den Absprung geschafft und lächelt von einem strahlenden Plakat als Werbeikone für die eigens kreierte Uhrmarke herab. Elisabeth findet sich auf dieser Müllhalde in der leisen Hoffnung ein, Tannhäuser hier zu finden. Die aus Rom zurückkehrenden Pilger sind jetzt keine Festspielbesucher*innen mehr sondern Müllsammler, die Oskar auch noch sein letztes Hab und Gut rauben. Verzweifelt muss Elisabeth erkennen, dass Tannhäuser nicht zurückgekehrt ist, und sehnt sich nur noch nach dem Tod. Auch Wolfram kann sie nicht trösten. Kurz vor ihrem Selbstmord gibt sie sich ihm hin, allerdings erst, als er das Clown-Kostüm Tannhäusers übergezogen hat. So traurig und verzweifelt hat man Wolframs anschließenden Gesang an den Abendstern wohl selten gehört. Eiches Interpretation geht dabei unter die Haut. Es folgt die Rückkehr Tannhäusers mit der Rom-Erzählung. Auch hier begeistert Vogt mit klarer Diktion und hellem Timbre. An den erlösenden Schluss glaubt das Regie-Team nicht wirklich. Wolfram legt dem verzweifelten Tannhäuser, dessen Versuch, erneut zu Venus zu gelangen, keine Alternative mehr ist, die tote Elisabeth in den Schoß. In einem Schlussbild sieht man Tannhäuser dann mit Elisabeth in dem Van in den Sonnenuntergang fahren. Das ist das einzig Versöhnliche an diesem Ende. Nathalie Stutzmann arbeitet mit dem Festspielorchester die Finessen der Partitur klar strukturiert und differenziert heraus und erntet wie die übrigen Solistinnen und Solisten und das Regie-Team tosenden Applaus.

FAZIT

Das Regie-Team um Tobias Kratzer findet einen in jeder Hinsicht packenden Zugang zum Werk, und auch die Video-Einspielungen von Manuel Braun geben der Inszenierung eine eigene und ganz besondere Note.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Nathalie Stutzmann

Regie
Tobias Kratzer

Bühne und Kostüme
Rainer Sellmaier

Video
Manuel Braun

Licht
Reinhard Traub

Chorleitung
Eberhard Friedrich

Dramaturgie
Konrad Kuhn



Festspielorchester

Festspielchor


Solistinnen und Solisten

*rezensierte Aufführung

Landgraf Hermann
Günther Groissböck

Tannhäuser
Klaus Florian Vogt

Wolfram von Eschenbach
Markus Eiche

Walther von der Vogelweide
Siyabonga Maqungo

Biterolf
Ólafur Sigurdarson

Heinrich der Schreiber
Jorge Rodríguez-Norton

Reinmar von Zweter
Jens-Erik Aasbø

Elisabeth, Nichte des Landgrafen
Elisabeth Teige

Venus
Ekaterina Gubanova

Ein junger Hirt
Julia Grüter

Le Gateau Chocolat
*Le Gateau Chocolat /
Kyle Patrick

Oskar
Manni Laudenbach

Edelknaben
Cornelia Heil
Ekaterina Gubanova
Laura Margaret Smith
Karolin Zeinert



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