Zum neunten Mal erst in der Geschichte der Bayreuther Festspiele wurde Richard Wagners Tannhäuser 2019 auf den Spielplan gesetzt. Mit Tobias Kratzers völlig unkonventionellem Regiekonzept kam die Inszenierung sofort in die Schlagzeilen; die Zeitschrift Opernwelt wählte in ihrer Kritikerumfrage danach Kratzer zum Regisseur des Jahres. Die Pandemie führte 2020 zu einer Unterbrechung der Vorstellungen. Nach Valery Gergievs glücklosem Dirigat übernahm 2021 Axel Kober die Vorstellungen, die Corona-bedingt vor nur halb gefülltem Haus und mit Zuspielung des Chores aus einem getrennten Saal stattfanden. Stephen Gould gab einen eher kernigen Tannhäuser; die Publikumsreaktion auf die ungewohnt freche Sichtweise von Wagners frühem Werk war wiederum vehement.

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Klaus Florian Vogt (Tannhäuser) und Ekaterina Gubanova (Venus)
© Enrico Nawrath | Bayreuther Festspiele

Auch 2023 rissen die Agenturmeldungen im Vorfeld nicht ab; Gould musste krankheitsbedingt in Bayreuth nicht nur den Tannhäuser absagen. Ein Glücksfall, dass Klaus Florian Vogt die Partie übernehmen konnte, der seit seinem ersten Engagement 2007 als Stolzing in Bayreuth eine schnell wachsende, euphorische Fangemeinde ins Festspielhaus lockt. Nachdem 2021 zum Fliegenden Holländer die Verpflichtung von Oksana Lyniv als erster Frau am Dirigentenpult zum Glücksgriff wurde, gelang nun der französischen Dirigentin Nathalie Stutzmann eine an Klangfarben reiche, in kammermusikalisch delikater Durchhörbarkeit aufblühend frappante Meisterleistung mit dem in Hochform musizierenden Festspielorchester.

Davon ist man bereits in den ersten fantastischen Klängen von Hörnern und Klarinetten gefesselt, zu denen bald eine die Bühnenöffnung füllende Videoprojektion die Vorgeschichte erzählt: Heinrich, der Tannhäuser, kommt als Böll’scher Clown von Venus’ kleiner, etwas schräger Varieté-Truppe, die mit altem Citroën-Bus zwischen wogenden Wipfeln des Thüringer Walds und oberfränkisch grünen Hügeln auf Tour ist. Zum taffen wie tiefsinnigen Quartett gehören auch der kleinwüchsige Oskar, der aus der „Blechtrommel“ von Günther Grass entsprungen scheint, sowie eine schwarze, prachtvolle Drag-Queen, die Opernchöre aus einem nostalgischen Kofferradio abspielt und mit blinkend bauschenden Fantasiekostümen Venus’ Werbung um Heinrich illustriert. Im lustvoll artistischen Show-Spiel wurden Drag-Queen Le Gateau Chocolat und Manni Laudenbach zu gefeierten Sympathieträgern der Künstlergruppe. Tank und Kühlbox sind irgendwann leer, mit Hinterlist werden an einer Tankstelle Kraftstoff und Drinks entwendet. Im Gewissenskonflikt überfährt beim Beutezug Venus einen Wachmann, dessen Sterben die Schlusstakte der Ouvertüre wie ein Requiem umspielen, bebildert mit leidender Botticelli-Venus auf dem Vorhang des Kleinbusses und Heinrichs vom Schreck aufgerissenen Augen. Dieser bekommt jetzt Zweifel und will zurück in sein altes Leben.

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Tannhäuser
© Enrico Nawrath | Bayreuther Festspiele

Tobias Kratzer geht über den oft in den Vordergrund gestellten Konflikt zwischen Hure und Heiliger, erotischem Venusberg und frommen Pilgerchören hinaus. Mit den schrillen Revoluzzern im Minivan lenkt er den Blick auf Wagners eigene politische Sturm-und-Drang-Phase, etwa nach dem Dresdner Aufstand als steckbrieflich gesuchter anarchistischer Barrikadenkämpfer, und sein Unterwegssein zu individuellem künstlerischem Ausdruck. Hinter der Maske des Clowns kann Heinrich in seinem Reifeprozess wachsen.

Der zweite Akt bekommt den Ruch einer Casting-Show im stockkonservativen Ambiente des Wartburgsaals. Wie auf dem Laufsteg werben die Minnesänger um Zustimmung bei ihrem Liedgesang. Tannhäuser hofiert die ihn liebende Elisabeth, der sich Venus in den Weg stellt. Raffiniert zeigt dies Video-Designer Manuel Braun in synchroner, übereinander gesetzter Dopplung von Film, Live-Kamera und realem Bühnengeschehen. Konzentration neben Spaß: die Livecam fängt dazu die Stimmungen im Backstage-Bereich ein, rückt dicht an das Mienenspiel der Gesichter, was durchaus mal ablenken kann vom Handlungsfaden des Wagnerschen Librettos. Impressionen kommen sogar vom Arbeitsplatz des Ton- und Bildregisseurs sowie der Hausherrin Katharina Wagner, die den Bühnenprotest des Trupps mit der rasanten Auffahrt von Polizeiwachtmeistern beenden will. Dass sich auf diesem Catwalk auch die Varieté-Komödianten in Szene setzen konnten, ist nur folgerichtig: Venus schmuggelt sich unter die Edelknaben, entert den Laufsteg, posiert vor der würdevollen Versammlung des Sängerwettstreits. Lang bewegender Abschied zeigt Heinrichs fortwährende Bindung an den extravaganten Freundeskreis.

Im dritten Akt dann ungeteilte Aufmerksamkeit für eine Art Schrottplatz, der nicht nur den defekten Kleinbus, sondern auch gescheiterte Existenzen beherbergt. Überzeugend die dramatische Zuspitzung, wenn sich Elisabeth nach einem Liebesakt mit Heinrichs Freund Wolfram die Pulsadern aufschneidet und Heinrich nach erfolgloser Pilgerfahrt zum Papst wütend seine nobel gedruckte Notenausgabe zerreißt. Doch gestattet Kratzer dem Zuschauer fast zu viel Erlösung, wenn endlich Heinrich und Elisabeth in flackerndem Super-8-Film in einen Hoffnung-spendenden goldenen Sonnenuntergang fahren.

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Le Gateau Chocolat
© Enrico Nawrath | Bayreuther Festspiele

Wie das Orchester, dessen bravouröse Soli (Englischhorn, Harfe, Flöten) von Nathalie Stutzmann wundervoll herausgehoben wurden, begeisterte auch der Festspielchor (Eberhard Friedrich) durch dynamische Feinzeichnung zwischen fast unhörbarem Piano und affirmativen Forte-Ausbrüchen. Julia Grüter beeindruckte mit fabelhaftem Sopranglanz als junge Hirtin, die den Tannhäuser auf den Weg bringt zum Sängerfest, hinter der liebevoll naturalistisch modellierten Auffahrt zum Festspielhaus und seiner detailgenau porträtierten Front (Rainer Sellmaier).

Ekaterina Gubanova war eine ebenso verführerische Sängerin der Venus wie lebhaft agierende, blondierte Chefin der Varieté-Komödianten. Elisabeth Teiges dunkel glänzende Sopranlage fesselte die Gäste beim Sängerfest ebenso wie die Bayreuther Opernliebhaber. Wunderbar schmeichelnden Wohlklang ließ Markus Eiche als Wolfram von Eschenbach ertönen, als Heinrichs Freund in zentraler Rolle. Würdig und weise gestaltete Günther Groissböck seinen Landgrafen.

Neue Tannhäuser-Akzente setzte Klaus Florian Vogt: neben stürmischen Momenten bewegte er in introvertierter, ja stiller Kraft, mit der er um seine Liebe zu Elisabeth ringt, sängerisch eine Welt von lyrischer Ausstrahlung, wie von fein schimmerndem Tonsilber öffnete. Sanfte Registerwechsel vom Heldischen in schattenfrei klare, fein strukturierte Melodiebögen gelangen makellos.

Tobias Kratzer aktualisiert jedes Jahr Details der Video-Drehbuchs. In diesem Jahr ist es die Diskussion um Augmented-Reality-Brillen, die im Parsifal für hitzigen Diskurs sorgten; kein Wunder, dass im Vorspann Oskar mit dem Schild „Suche Brille“ Last-Minute-Kartenjäger karikieren darf. Und an anderer Stelle sein Köfferchen mit „back in 2024“ verziert. Man muss kein Prophet sein zu prognostizieren, dass die Vorstellungen im kommenden Jahr erneut bald ausverkauft sein werden.

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