Salzburger Festspiele
Am Ende liegt Manolios (Sebastian Kohlhepp) in seinem Blut.
APA/FRANZ NEUMAYR

Eine Uraufführung hat man in der Ära von Intendant Markus Hinterhäuser im Opernbereich noch nicht erleben dürfen. Aber immerhin wird bei den Salzburger Festspielen als diesjährige letzte Opernpremiere eine Rarität gezeigt, nämlich Bohuslav Martinůs Oper "The Greek Passion", in welcher der Umgang mit in Not geratenen Menschen verhandelt wird.

Regisseur Simon Stone wiederum hat in Salzburg bereits Spuren hinterlassen. In Erinnerung sind sein grandioser "Lear" (von Aribert Reimann) und Luigi Cherubinis "Médée". Hat er bei Cherubini deutungsmäßig ordentlich zugelangt, setzt Stone bei diesem selten gezeigten Werk auf Zugänglichkeit.

Komponierte Analyse

Die komponierte Analyse kollektiver, von priesterlichen Fake News und Machtwillen befeuerter Unmenschlichkeit ist dem Roman "Christus wird wieder gekreuzigt" von Nikos Kazantzakis nachempfunden. Die Geschichte ist in einem griechischen Dorf situiert. Auserwählte Bewohner spielen die Leidensgeschichte Christi nach, sollen es zumindest tun, doch es gibt "Störungen" der dörflichen Ordnung.

Mitten in die Vorbereitung des Passionsspiels schleppen sich erschöpfte, vertriebene Griechen ins Dorf und bitten um Hilfe und schließlich um Siedlungsland. Auf der leeren Bühne mit gräulich-blau wirkenden Wänden (Bühnenbild: Lizzie Clachan) stehen einander dann die zwei Gruppen holzschnittartig und unversöhnlich gegenüber.

Gegen die Flüchtlinge

In Grau werden die Dorfbewohner gezeigt, bunt die Flüchtlinge mit ihrem Hab und Gut und ihren Schwimmwesten. Hier wird bereits offensichtlich, dass Stone mit den aufeinanderprallenden Massen zwecks einer ungestörten Schilderung des herzlosen, uniformen Gruppenverhaltens auf oratoriale Statik setzt. Umso deutlicher heben sich insofern die individuellen Ausbrüche aus der Gruppe ab. Stone versucht auch eine optische Belebung des leeren Raumes, der bei ihm zur Leinwand wird.

Zwei Männer seilen sich von den Arkaden ab und malen in Großbuchstaben und oranger Schrift "Refugees out!" an die Wand. Da steigen grüne Wasserfontänen aus dem Boden auf, oben bildet sich wiederum ein lichtdurchfluteter Wasserfall. Auch gehen Wandfenster auf, wie bei einem Adventkalender, und öffnen den Blick unter anderem auf einen Akkordeonisten oder einen Mann, der Kirchenglocken betätigt.

An gewissen Stellen kriechen Menschen aus dem Boden oder werden von diesem verschluckt. Es tritt auch ein echter Esel auf, den Yannakos (vokal herausragend Charles Workman) füttert. Yannakos soll Petrus darstellen und leidet immer mehr unter seinen betrügerischen Absichten. Auch Ziege und Schaf sind da, wenn Katerina (intensiv Sara Jakubiak) die Tiere an die Flüchtlinge verschenkt, weil sie auch durch ihre Rolle als Maria Magdalena immer mehr Mitgefühl empfindet.

In seinem Blut

Besonders wird aber Hirte Manolios (tadellos Sebastian Kohlhepp), der Jesus sein soll, von seiner Rolle durchdrungen. In einem Traum durchlebt er Konflikte rund um seine sexuellen Begehren, was bei Stone zur szenisch eindringlichsten Passage führt. Schließlich wird Manolios gleichsam – beseelt von Empathie und Hilfsbereitschaft – zum Revolutionär des Dorfs. Sein Plädoyer für Anteilname bringt ihm allerdings nur den Tod. Er wird erdolcht und liegt in seinem Blut, während sich die Musik verklärt und Katerina zusammen mit der einstigen Verlobten von Manolios (glänzend Christina Gansch als Lenio) hinter dem Toten kniet.

Es ist auch ein kurzer Augenblick kollektiver Einsicht und Trauer, der aber den demagogischen Priester Grigoris (solide Gábor Bretz) nicht zu berühren scheint. Die Flüchtlinge, angeführt von Priester Fotis (Lukasz Golinski), ziehen schließlich weg, um anderswo Menschlichkeit zu finden.

Eklektische Stilistik

Die Musik weist keine durchgehende Bewegung auf, sie ist eher episodenhaft. Sie ist aber voll schillernder Kontraste, dramatische Bühnenmomente werden düster aufgeladen, aber auch Poesie ist reichlich vorhanden. Die eklektische Stilistik liegt den Wiener Philharmonikern. Geschult an unter anderem Leoš Janáček und dem Impressionismus und anderen tonalen Schulen des frühen 20. Jahrhunderts, meistern sie unter der Anleitung des formidablen Dirigenten Maxime Pascal die Stilwechsel kultiviert.

Klangliche Vielfalt und das Pendeln zwischen Drama und Verklärung finden sich nobel ausgestaltet, alles ist vokalfreundlich, wovon auch die superbe Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und der Kinderchor profitieren. Applaus für alle, die diese Zürcher Fassung umgesetzt haben, die opernhafter ist als die Londoner Version, die mehr Sprechstellen enthält und einst von der Oper Covent Garden abgelehnt wurde. Die Uraufführung fand erst 1961 in Zürich statt. Zwei Jahre nach dem Tod von Bohuslav Martinůs. (Ljubiša Tošić, 14.8.2023)