Vom Wahn, die Realität zu erweitern: „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen

Bayreuther Festspiele 2023/PARSIFAL/E. Gubanova, A. Schager/ Foto @ Enrico Nawrath

Die wirtschaftliche Lage der Bayreuther Festspiele ist aufgrund des russischen Kriegs, der Inflation sowie angepasstem post-pandemischem Besucherverhaltens extrem herausfordernd. Umso höher ist es Festspielintendantin Katharina Wagner anzurechnen, dass sie getrau dem Motto ihres Urgroßvaters „Kinder, schafft Neues!“, das Geschehen auf dem Grünen Hügel hinterfragend, kontinuierlich weitere visionäre Bühnen- und Theaterkonzepte entwickelt. Wo Richard Wagner für seinen Parsifal die damaligen Hörgewohnheiten mittels überdeckelten Orchestergraben aufmischte, lies sie für die diesjährige Neuproduktion des Bühnenweihfestspiels den US-amerikanischen Musiktheaterprofessor und Regisseur Jay Scheib eine innovative Augmented-Reality-Inszenierung (AR) entwickeln. Mit dem gemeinsamen Ziel, den Bühnenraum zu erweitern, soll das Publikum in neue, nie geahnte Tiefen des Werks eintauchen. Einen vergleichbaren AR-Feldversuch hat es in diesem Umfang in der darstellenden Kunst bis dato noch nicht gegeben. Mit fast 1.000 Euro pro AR-Brille entpuppte sich das kostspielige Techniknovum als Kontroverse in der angespannten Budgetplanung der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth. Schlussendlich durften in der diesjährigen Premierenserie lediglich 330 Personen je Vorstellung – gegen Aufpreis – in den Genuss des erweiterten AR-Bühnenraums kommen. (Rezension der Vorstellung v. 23. August 2023)

 

AR-Brillentechnik fasziniert, bietet jedoch wenig Mehrwert

Um es vorwegzunehmen, diese Neuproduktion des Parsifal dürfte als kostspieligster Flop in die Geschichte der Bayreuther Festspiele eingehen. Leider! Denn wie sehr hätte man Katharina Wagner und Jay Scheib aufgrund ihres Tatendrangs und der Innovationsfreunde und ob des finanziellen Risikos einen großen Publikumserfolg gegönnt. Die Bayreuther Festspiele hätten mit diesem Parsifal als Visionäre in die Theatergeschichte eingehen können. Denn grundsätzlich bietet die AR-Brillentechnik durchaus Potential für spannendes, die Realität erweiterndes Musiktheater. Im Festspielhaus die Bühne fokussierend, dabei das Bewusstsein für die Umgebung und ihre Mitmenschen verlieren, kann Augmented Reality im wahrsten Sinne Wagners den Raum zur Zeit werden lassen.

Bayreuther Festspiele 2023/PARSIFAL/ Foto @ Enrico Nawrath

Das große Manko von Jay Scheibs Inszenierung: Er findet schon für den realen Raum auf der Festspielbühne kaum nachhaltig einprägende, stringente Ideen, welche mittels AR-Brillentechnik dann lediglich illustriert, letztlich gar banalisiert werden. Seine Regie erzählt keine Geschichte und strotzt vor handwerklichen Mängeln. Mit nicht-existenter Personenführung bietet Scheibs Parsifal ein Singen-an-der-Rampe wie es gerade in Bayreuth nicht passieren darf. Ein zusätzlich eingeführtes omnipräsentes Kundry-Double wirkt dabei als deplatziertes schmückendes Beiwerk. Die ästhetisch fragwürdig anmutenden, schrill-bunten, dabei doch insgesamt sehr willkürlich zusammengeworfenen Kostüme von Meentje Nielsen tragen ihr Übriges dazu bei. Ziemlich profan wirkt auch Joshua Higgasons Video-Regie, welche die Figuren stundenlang mittels Live-Kameras auf die Bühnenwände projiziert und dabei den Mangel an Interaktionen sogar vergrößert.

Scheib weiß auch mit dem AR-Brillen-Effekt keinen Mehrwert zu schaffen oder gar eine Meta-Ebene einzuführen. AR dient ihm bloß optisch-dekorativen Zwecken. Alles durch die Brille Herbeigeflogene ist bloße Illustration, Gegenstände wie Speer und Steine schweben nebst abstrakten Formen uninspiriert durch den erweiterten Raum und wecken Assoziationen zu Bildschirmschonern der Ära von Windows XP. Die Augmented Reality findet unter Verzicht kommentierender Aussage und losgelöst vom spannungslosen Bühnengeschehen statt. Selbst zur Verwandlungsmusik oder dem Karfreitagszauber findet sich keinerlei einprägsamer Bühnenzauber oder realitätserweiternde Relevanz. Das AR-Publikum äußert sich in den Pausen unbeeindruckt, spätestens im dritten Aufzug verzichtet manch einer enttäuscht auf das Tragen seiner AR-Brille.

 

Fulminates Bayreuth-Dirigat von Pablo Heras-Casado 

Die vielschichtigen Tiefen des Parsifal ganz ohne technischen Firlefanz zu durchdringen, gelang hingegen dem Bayreuth-Debütanten Pablo Heras-Casado. Nicht einmal einen Dirigentenstab nutzte der im Wagner-Fach kaum erfahrene und hierzulande im Opern-Orchestergraben weitestgehend unbekannte Dirigent. Lediglich am weit entfernten Teatro Real in Madrid hat er einmal einen Ring-Zyklus geleitet. So entpuppte sich Heras-Casado als genialer Überraschungskünstler dieses Festspielsommers. Seine Erfahrungen mit historisch-informierten Ensembles war aus dem Bayreuther Graben deutlich herauszuhören. Der Dirigent entstaubte die Partitur Wagners und entwickelte mit dem Festspielorchester neue, andersklingende Auffassungen hinsichtlich Phrasierung und Artikulation, insbesondere der Soli-Passagen. Bei ihm lag der Fokus ausnahmsweise nicht auf den großen dramatischen Spannungsbögen. Heras-Casado webte vielmehr einen ästhetischen Streicher-Klangteppich im behutsamen Mezzoforte, welchen die Holz- und Blechbläsergruppen immer wieder impulsiv und aufbrausend durchbrachen. Mit seinem erfrischenden Dirigat, das obgleich sehr persönlich, teils improvisierend anmutete, erzielte er eine vorbildliche Klang-Balance. Heras-Casados überschwängliche Tempiwechsel mit feinsinnig gezeichneter, klarer Textur, wirkten weder verkopft noch allzu technisch. Stellenweise klang unter seiner Leitung das Bayreuther Festspielorchester sogar – im positiven Sinne –  un-wagnerianisch sphärisch. Zurecht erhielt Pablo Heras-Casado für seine Leistung die größten Ovationen des Abends.

 

Ekaterina Gubanova fügt sich als Kundry in das Spitzenensemble ein 

Elīna Garančas Premieren-Kundry fand zur diesjährigen Festspieleröffnung durch den Live-Stream weltweite Beachtung. Sie teilte sich die Vorstellungstermine des Parsifal mit Ekaterina Gubanova, deren Kundry-Darbietung mangels TV-Übertragung weniger öffentliche Aufmerksamkeit erhielt, insgesamt jedoch eine nicht minder sensationelle Leistung bot. In verständlicher Deklamtion und mit sinnlicher, ergreifender Klangfarbe schuf Gubanova phonetische Gänsehautmomente. Ihre ergreifende, markerschütternde Mezzo-Stimme mit sicherer Führung in allen Registern bewies den perfekten Grad zwischen dramatischer Intensität und verführerischer Lyrik.

Bayreuther Festspiele 2023/PARSIFAL/G. Zeppenfeld/ Foto @ Enrico Nawrath

In der Partie des Gurnemanz  brillierte der Bayreuther Publikumsliebling Georg Zeppenfeld erneut durch seinen klaren, unprätentiösen und außerordentlich natürlichen Gesangsvortrag. Bei ihm sind es all die kleinen Details – eine kurzer Blick in die Höhe mit einem Moment der Besinnung zwischen den Worten „er starb… ein Mensch wie alle“ – die seine Darstellung so unvergesslich werden lassen.

Neben Zeppenfeld ist auch der Heldentenor Andreas Schager von den Wagner-Festspielen nicht mehr wegzudenken. Dieser rettete durch mehrmaliges Einspringen in diversen Partien den Festspielsommer auf dem Grünen Hügel. Trotz fast täglicher Auftritte bei den Festspielen, waren bei Schagers stimmlichen Stamina keine Abstiche zu machen. Vor Gesangskraft strotzend war sein Parsifal den Verführungen Kundrys stets überlegen. Schagers im zweiten Aufzug zunächst naiv-forsche, packende Herangehensweise an die Partie ließ das Ideal des von Wagner implizierten „reinen Toren“ hervortreten. Mit sinnlichen Zwischentönen ausgestattet klang dieser Parsifal zur Rückkehr im dritten Aufzug gewandelt und zu neuer menschlicher, sowie darstellerischer Größe herangewachsen.

Bayreuther Festspiele 2023/PARSIFAL/D. Welton/ Foto @ Enrico Nawrath

Derek Welton ließ mit herber, intensiver Baritonstimme das Leiden des Amfortas als Drohgebärde erleben. Seine ungewohnt mitreißende Darstellung dieses normalerweise im Siechtum bemitleidenswerten Gralskönigs erklang als Parabel, in welcher er die Heilsfindung gleich einer Dystopie für die Gralsgesellschaft verstand. Ausgerechnet die düstere Partie seines Antipoden Klingsor wurde mit liedhafter Deklamation durch Jordan Shanahan in sanfter, gar sympathischer Manier gestaltet und stand so im scharfen Kontrast zum eigentlich tragischen Helden Amfortas. Mit warmer, runder Bass-Stimme gab Tobias Kehrer in seinem kurzen Auftritt dem alternden Titurel die ihm gebührende Würde. Abgerundet wurde das Ereignis durch den Festspielchor, welcher unter der Leitung von Eberhard Friedrich in sanft ausbalancierter Perfektion harmonierte.

 

Doppelmoralische Programmheft-Inszenierung widerspricht sich selbst 

Erst mit Studium des Programmhefts wird das Parsifal-Regiekonzept in Ansätzen erkennbar. Das Thema des Regisseurs sind Rohstoffe, seltene Erden und der damit einhergehende Raubbau an der Natur. Die wüste Landschaft im ersten und dritten Aufzug zeigt einen menschenfeindlichen apokalyptischen Ort an welchem die allerletzten Rohstoff-Vorkommen als Nahrung dienen. Einzig in der Schluss-Szene „Erlösung dem Erlöser“ bringt Scheib eine Art Interpretationsansatz: Der heilige Gral ist das für die Batterieindustrie wertvolle Element Kobalt. Parsifal wirft dieses zu Boden. Der Kobalt zerbricht in tausende Scherben. Das umweltbewusste Credo, mit dem Rohstoffabbau und der damit einhergehenden Umweltverschmutzung müsse jetzt auch mal Schluss sein, legt bei einem derart technikverliebten Regisseur wie Jay Scheib eine Doppelmoral offen. Denn Scheibs Bayreuther Augmented-Reality-Technologie mit 330 Mini-Computern nebst hochspezialisierter Brillen-Display-Elektronik ist vollgestopft mit jenen in seiner Inszenierung angeprangerten, in prekären Verhältnissen der Natur entnommenen, Materialien und Rohstoffen. Oder möchte Jay Scheib damit eine geheime Botschaft senden? Augmented Reality scheint seiner Regie-Auffassung nach, aufgrund ihrer später als Elektroschrott der Kreislaufwirtschaft zugeführten Technik, wohl doch kein zukunftsweisendes oder gar nachhaltiges Musiktheaterkonzept zu sein.

 

 

 

 

 

 

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