Zur OMM-Homepage Zur OMM-Homepage Veranstaltungen & Kritiken
Musikfestspiele
Zur OMM-Homepage Ruhrtriennale 2021-2023 E-mail Impressum



Die Erdfabrik

Théâtre musical von Georges Aperghis und Jean-Christophe Bailly
Text von Jean-Christophe Bailly unter Verwendung eines Gedichts von Annette von Droste-Hülshoff
Musik von Georges Aperghis

Dauer: ca. 1h 15' (keine Pause)

Uraufführung am 11. August 2023, Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord
(rezensierte Aufführung: 19. August 2023)

Logo: Ruhrtriennale 2023

Das Bergwerk als metaphysischer Ort musikpoetischer Selbstfindung

von Stefan Schmöe / Fotos © Heinrich Brinkmöller-Becker, Ruhrtriennale 2023

Wenn die Ruhrtriennale ein Werk für das Musiktheater in Auftrag gibt, dann liegt das Thema "Bergbau" natur- wie klischeegemäß in der Luft. Für Georges Aperghis (Musik und Regie) und Jean-Christophe Bailly (Text) ist das Bergwerk allerdings lediglich der Ausgangspunkt einer ziemlich freien Assoziationskette, die ihr Théâtre musical mit dem unfreiwillig drolligen Namen Die Erdfabrik durchzieht. Wobei hier schon der Begriff "Theater" hinterfragt werden muss, denn es gibt keinerlei Handlung, kein Szenario oder irgendwelche Rollen, und selbst die szenischen Vorgänge auf der Bühne sind geradezu minimalistisch. Vielmehr muss man Theater als Zusammenspiel unterschiedlicher akustischer wie visueller Sphären auffassen. Wobei durch die Aufstellung der Instrumente auf der Bühne die Tonerzeugung an sich bereits eine szenische Aktion darstellt, und wenn alle fünf Musiker (eine Sopranistin, ein Trompeter, zwei Schlagzeuger und eine Kontrabassistin) zur Melodika greifen, deren Mundstücke durch Plastikschläuche verlängert sind, gilt das erst recht. Hinzu kommen gesprochene und gesungene (dabei teilweise bis zur Unkenntlichkeit in einzelne Laute zerlegte) Texte und Videoeinspielungen. Dabei haben diese unterschiedlichen Schichten nur entfernt miteinander zu tun (was man wiederum als Analogie zum Bergbau betrachten könnte). Das Musiktheater setzt sich, anders als in der konventionellen Oper mit sorgsam geplanten emotionalen Höhepunkten, erst im Kopf des Zuhörers und Betrachters zusammen.

Vergrößerung in neuem Fenster

Die Textgrundlage bilden das Gedicht Die Erzstufe von Annette von Droste-Hülshoff, bei dem Bailly und Aperghis sich offenbar vor allem für die lautmalerische Musikalität interessieren. Jedenfalls bleibt der in Phoneme fragmentierte Text unverständlich und Sopranistin Donatienne Michel-Dansac setzt ihre Stimme instrumental als Klangfarbe ein (sie schlägt sich tapfer). Als Vermittlerin des Textes tritt die Solostimme selten in Erscheinung; stattdessen wird der Text auf alle Musiker verteilt. So sind zwei Gedichten von Jean-Christophe Bailly (Blindekuh und Insomnia immerhin bruchstückhaft zu verstehen und werden via Übertitelungsanlage auch ins Englische übersetzt. "Es ist nichts als das Dunkel und jemand darin / jemand, der sich völlig verloren hat / im uferlosen Dunkel" heißt es am Beginn von Blindekuh, das den Menschen als Nicht-Sehenden beschreibt. Und der Anfang von Insomnia wendet die Dunkelheit noch deutlicher ins Metaphorische: "Es gibt eine äußere Nacht, doch es gibt auch eine andere Nacht / eine Nacht, die von innen aufzieht". und später: "spiegelt sich in uns nicht die allumfassende / Schlaflosigkeit, diejenige der ganzen Welt". Das Bergwerk als der Ort absoluter Lichtlosigkeit wird zum metaphysischen Urgrund wie zum Ort des Suchens nach den Wurzeln der Existenz umgedeutet.

Vergrößerung in neuem Fenster

Ernst und Bedeutungsschwere werden auf der musikalischen Ebene wie in der Videoinstallation immer wieder mit Witz gebrochen. In den Videosequenzen (Jeanne Apergis) sieht man ab und zu Zeichentrickfilm-Sequenzen in stop motion-Ästhetik, bei der comicartige Zeichnungen sich ruckartig bewegen - darin prügelt beispielsweise eine Figur in Endlosschleife mit absurder Komik auf eine andere ein. Meist aber sieht man animierte Bilder, die wie historische Kupferstiche erscheinen und nach und nach entstehen, als würden sie gerade gezeichnet. In einer zentralen Szene wuchern plötzlich Pflanzen in einen endlosen, offenbar mit Beton ausgekleideten Tunnel hinein. Motive der Gedichte werden auf diese Weise aufgegriffen, aber nicht konkret bebildert. Der Zusammenhang entsteht auf der assoziativen Ebene.

Vergrößerung in neuem Fenster

Auch die Musik illustriert keineswegs den Text, sondern schafft eine eigene Sphäre. Dabei fügt Aperghis durchaus konkret lautmalerische Elemente ein. Immer wieder hört man Klänge wie Wassertropfen, in der Regel das einzige akustische Ereignis in einer Höhle oder einem Bergwerk. Im Gegensatz dazu stehen Industriegeräusche. Ganz realistisch erklingen diese, wenn in einem drehbaren Kasten Steine umherrutschen und gegeneinanderschlagen. Rhythmisches Hämmern auf Metall hat in der Musikgeschichte durch Wagners Rheingold einen prominenten Platz. Überhaupt dürfen die beiden Schlagzeuger (Christian Dierstein und Dirk Rothbrust) auf allerlei Gegenstände schlagen, die nicht zum klassischen Schlagwerk gehören, oder auch mit Ketten rasseln - da entfesselt Aperghis einen reichhaltigen Kosmos an perkussiven Klängen. Dagegen stehen Vogelstimmenpfeifen und die schon erwähnten Melodikas, die eine Welt der Natur und der Kinderspiele assoziieren lassen. Der Kontrabass (Sophie Lücke) kann sowohl in tiefer Lage "erden" wie bis zur extrem hohen Lage den Klangkosmos durchmessen (und gibt optisch-szenisch aufgrund der Größe ohnehin viel her). Der Trompete (Marco Blaauw) hat der Komponist die fanfarenartige Funktion genommen und nutzt sie zur Erzeugung von Atemgeräuschen und metallischen Klangereignissen.

Vergrößerung in neuem Fenster

Aperghis spielt mit Lärm und Stille, mit Geräusch und Klang. Im übertragenen Sinn kann man auch die turbulente oberirdische Welt und die unterirdische Stille darin erkennen, oder auch Tag und Nacht, außen und innen. Aperghis legt sich nicht fest, und wichtiger: Er legt den Zuhörer in seinem Empfinden nicht fest. Die Schattenseite einer solchen idealistisch freien Konzeption, bei der allein die eigenen Assoziationen die Bedeutung festlegen, ist das Fehlen einer nachvollziehbaren werkimmanenten Logik. Anders gesagt: Vieles klingt dann eben beliebig und austauschbar. So wirkt die etwa 75 Minuten lange Aufführung streckenweise hochkonzentriert und poetisch verdichtet, dann wieder als Sammelsurium obskurer Klänge und Bilder. Aperghis und Bailly machen es dem Publikum schwer, dauerhaft in das Stück "einzutauchen". Daher ist kaum vorstellbar, dass Die Erdfabrik jenseits des Festivalbetriebs einen Platz im Opernbetrieb finden wird.

FAZIT

Tiefere Bedeutung und Bedeutungslosigkeit stehen sich mitunter ziemlich nahe: Diese Erdfabrik hat fesselnde Momente wie auch solche, die einen in ihrer vermeintlichen Beliebigkeit ziemlich ratlos zurücklassen.


Ihre Meinung ?
Schreiben Sie uns einen Leserbrief

Produktionsteam

Komposition und Regie
Georges Aperghis

Text
Jean-Christophe Bailly

Künstlerische Mitarbeit
Emilie Morin

Bühne, Requisite
Nina Bonardi

Kostüme
Julie Scobeltzine

Licht Design
Daniel Lévy

Sound Design
Thomas Wegner

Co-Sounddesign
Sebastian Schottke

Video Design, Animation
Jeanne Apergis

Video Installation, Technik
Jérôme Tuncer

Musikalische Studienleitung
Uli Fussenegger

Künstlerische Produktionsleitung
Stefanie Hiltl

Technische Projektleitung
Darko Šošic


Solistinnen und Solisten

Stimme
Donatienne Michel-Dansac

Percussion
Christian Dierstein
Dirk Rothbrust

Trompete
Marco Blaauw

Kontrabass
Sophie Lücke


weitere Berichte von der
Ruhrtriennale 2021 - 2023


Homepage
der Ruhrtriennale


Die Ruhrtriennale in unserem Archiv



Da capo al Fine

Zur OMM-Homepage Ruhrtriennale 2021-2023 E-mail Impressum

© 2023 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de

- Fine -