Der unerlöste Erlöser: Thalheimer überlässt die Mühe der Enträtselung des Mysteriums dem Publikum

Xl_7905_parsifal_07_foto_sandra_then © Copyright: Sandra Then

Parsifal Richard Wagner Besuch am 1. Oktober 2023 Premiere am 17. September 2023

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf

Der unerlöste Erlöser: Thalheimer überlässt die Mühe der Enträtselung des Mysteriums dem Publikum

Bis 1903 ist Bayreuth der einzige Ort, an dem Richard Wagners Bühnenweihfestspiel aufgeführt werden kann. Die kleine fränkische Stadt ist in den Jahren seit der Uraufführung von 1882 Sehnsuchtsziel zahlreicher Verehrer des Komponisten auf der Suche nach einem Ausweg aus Nibelheim, aus der barbarischen Welt. Ihre Motive, folgt man dem US-Musikkritiker Alex Ross in seiner Analyse Die Welt nach Wagner, sind unterschiedlich. Parsifal stehe in ihrer Sicht für katholisches Mysterium, gnostisches Rätsel, buddhistische Erleuchtung, schwarze Messe. Ein Kanon, der die weltweite, häufig ideologiegetriebene bis missionarische Rezeption des Werks gleichsam vorwegnimmt.

Wagner träumt zeit seines Lebens von einer „neuen Religion“, von der Überwindung einer traditionellen Weltanschauung der Beschränkung von Kunst, Politik und Spiritualität. Er entwickelt seine Idee der Erlösung des Menschen durch Empathie aus christlichen, buddhistischen, maurischen und germanischen Mythen. Ein Mixtum, das der Auflösung bedarf. Seit Ablauf der drei Jahrzehnte umfassenden urheberrechtlichen Schutzfrist sind daher Musiktheater gefordert, für Wagners „Weltabschieds-Werk“, wie er 1883, wenige Wochen vor seinem Tod, in einem Brief an Ludwig II. schreibt, eine werkangemessene und glaubhafte Form der Vermittlung zu finden.

Parsifal ist kein Monolith der Kunst. Aber auch kein Spielbaukasten, in den sich nach Belieben greifen lässt. Parsifal ist letztlich das Rätsel, das Regisseure in Wagners Oper sehen. In seiner Neuinszenierung für die Deutsche Oper am Rhein lässt Michael Thalheimer diese Crux der Rezeptionsgeschichte hinter sich. Er schlägt einen neuen Weg ein, indem er sich dem Ritus der Enträtselung durch Deutung oder Transformation schlicht entzieht.

Dem Versuch einer x-ten Bearbeitung des Erlösungsmythos setzt der Regisseur ein Theater der Schlichtheit entgegen. Alles, was bewegt, erläutert er sein Konzept im Programmheft-Interview, sei immer schlicht. Daher habe er sich für eine reduzierte Bildsprache entschieden. „Wenn sich ein Bühnenbild vollständig preisgibt, wird sich das Publikum wie im Kino nur passiv von den Bildern berieseln lassen.“ Ein Ansatz, der durchaus Sympathien in einer Zeit finden kann, in der überbordendes Regietheater dem Publikum eine willkürliche Version fern von jeglicher Werktreue oktroyiert. Der zudem die Besucher in eine Rolle versetzt, für die Thalheimer sogar den Begriff der Arbeit nicht scheut. Er möchte, äußert er, dass auch die Zuschauer „arbeiten, ihre eigenen Bilder im Kopf entwickeln müssen“.

Streng im Sinne des Rekurses auf das Konzept der Einfachheit fällt dann auch Thalheimers Inszenierung aus. Die von Bühnenbildner Henrik Ahr und Kostümbildnerin Michaela Barth verantwortete Ausstattung verzichtet auf jegliche Schauwerte und Oberflächenreize. Weder ist ein Schwan zu sehen, noch sind es Pfeil und Bogen. Weder ein Sarkophag für Titurel, noch der vom Komponisten gewünschte Zaubergarten in Klingsors Schloss mit „tropischer Vegetation und üppigster Blumentracht“, in dem sich „schöne Mädchen mit flüchtig übergeworfenen, zartfarbigen Schleiern“ räkeln. Geschweige der Gral. Dessen Enthüllung wird allein durch einen von Stephan Bollinger erdachten Lichtkegel angedeutet.

Wo Wagner im Gebiet des Grals eine Lichtung im Wald verlangt, „schattig und ernst, doch nicht düster“, und Amfortas „Waldesmorgenpracht“ empfindet, lässt Thalheimer allenfalls graue Wände und mobile Raumelemente zu, die maximal Schwarz-Weiß-Effekte generieren. Zum ausgedehnten Vorspiel, dem Wagner thematisch Liebe undGlauben zuordnet, fällt der Blick auf eine dunkle durch eine Spaltöffnung geteilte Wand, wodurch anfänglich die Vorstellung eines christlichen Kreuzes entsteht. Im zweiten Aufzug durch Reduktion auf eine vertikale Öffnung der Zugang zu Klingsors Schlossturm. Auf den hinteren und seitlichen Wänden sind rote Farbverläufe angebracht, auch Kreuze, die beim Besucher die erwünschten Assoziationen auslösen. Im dritten Aufzug verweisen Scheinwerferbatterien an beiden Seiten schon früh auf die Öffnung des Grals, der später gerade nicht pompös ausfallen wird.

Mit Gralsrittern, die in blutverschmierter Kostümierung durch die Szene wanken, und einem Gurnemanz, der sich nur quälenden Schrittes an Krücken fortbewegen kann, zeigt Thalheimer an, wie ausgebrannt er sich die patriarchalische Gesellschaft von Monsalvat denkt. Sie hat ihre Daseinsberechtigung längst verloren, und auch Parsifal wird sie nicht mehr aus ihrer Dekadenz und Morbidität retten. Dazu passt konsequent die Negativstilisierung der Figur des Parsifal. Im ersten Aufzug als nach Orientierung gierender Jüngling in weißer Unterwäsche, die womöglich für Fechter typisch sind. Im zweiten als schwarz gewandeter müder Antiheld mit Clownsmaske. Es ist das exakte Gegenbild zu jener Lichtgestalt mit eingenähten Strahlern in Mantel und Krone noch vor Jahren in der Inszenierung der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus im blauen Zelt am Kölner Dom.

Thalheimers Konzept der Desillusionierung eskaliert in der Idee, Parsifal in den Eckaufzügen mit dem Rücken zum jeweiligen Geschehen am Bühnenrand zu platzieren. Ein Mitspieler, gleichzeitig ein Verweigerer, der mit verlorenem Blick in das Publikum, quasi exterritorial bekundet, mit all dem nichts mehr anfangen zu können, vielleicht zu wollen. Weißt du, was du sahst?, die Worte, mit denen Gurnemanz nach der qualvollen Gralszeremonie den „reinen Toren“ des Platzes verweist, werden ihres Sinnes beraubt. Dieser Parsifal, dieser Pseudo-Erlöser weiß in Wirklichkeit nichts, keine Zukunft für sich und keine für die Gralsgesellschaft. So steht am Ende ein Demaskierter auf der Bühne, menschlich allein dadurch, dass er dies nicht zu verbergen sucht.

In diese Welt bricht mit Kundry eine Figur ein, die für Veränderung, Bewegung, Perspektive steht. Eine Frau der Moderne, der Gegenwart, die Thalheimer mit einer Pistole ausstattet, um das Potential zu symbolisieren, das er in ihr sieht. Es ist der Typus der jungen Frau, die man sich - pars pro toto - an der Spitze der „grünen Revolution“ im Iran vorstellt. Mit acht Schüssen aus dieser Waffe löscht sie das nunmehr lächerliche Leben Klingsors aus, der zuvor mit einem Kunstpenis aus der Requisite ausgedrückt hat, was er unter dem Heiligen Speer versteht.

So fordernd und verlangend diese Kundry in der Schlüsselszene des zweiten Aufzugs, in der Auseinandersetzung mit Parsifal, auftritt, so sehr fällt dieser starke Charakter in Thalheimers Inszenierung im finalen Aufzug ab. Wagner lässt sie mitagieren, allerdings in einer jetzt stummen, weitgehend passiven Rolle. Thalheimer scheint dieses down grading nicht zu gefallen. Er beauftragt sie, mit blutroter Farbe Durch Mitleid wissend, der reine Tor, die Botschaft des Gralsepos, Buchstabe für Buchstabe an die hintere Wand zu schreiben und später wieder zu übermalen. Da sich dies hinzieht, agiert auf der Bühne jetzt nicht mehr die Frau per se mit der großen Palette menschlicher und übermenschlicher Empfindungen von der diabolischen über die devote bis hin zur verführerischen femme fatale. Sondern die Frau in der bekannten Abhängigkeit vom Manne. Dienen, dienen, Kundrys Credo scheint hier gehörig überdehnt zu sein.

Anlässlich des Baden-Badener Parsifal mit den Berliner Philharmonikern 2018 bemüht Simon Rattle für Wagners Musik das Bild vom „Riesenvogel“, „der knapp über dem Wasser schwebt.“ Auf den Schwingen dieses Vogels, um das Bild aufzunehmen, finden die Düsseldorfer Symphoniker mit dem Wagner- und Bayreuth-versierten Axel Kober am Pult bereits mit dem zügig intonierten Vorspiel eine Linie der Balance zwischen den monströsen wie den subtilen Passagen, zwischen Opulenz und Agonie. Ein Klangbild, das auch im totalen Weiherausch den Gesangssolisten den nötigen Raum lässt und schenkt.

Das Bild des majestätischen Riesenvogels gilt nicht zuletzt für den von Gerhard Michalski einstudierten Chor und Herren-Extrachor, der am Ende doch noch für Wagner-Schauer in Sinnen und Herzen sorgt. Gesteigert überdies von den Frauenstimmen des Chores, die in der finalen Gralsszene in den oberen Rängen platziert sind und dank offener Saaltüren wie aus den fernen Landen klingen, die Parsifal auf seinem Weg zur Gralsburg durchstreift hat.

Der Dirigent und Wagner-Spezialist Marek Janowski verlangt vom Sänger der Mammutpartie des Gurnemanz eine lyrische Gesangslinie mit streckenweise „belcantistischer“ Attitüde. Hans-Peter König gibt den Erzähler mit sonorem Bass und aufbrechender Grimmigkeit, wo sie verlangt wird. Seine Textverständlichkeit ist famos. Allerdings hält er den Spannungsbogen der Partie nicht bis zum Ende durch. Als Parsifal beeindruckt Daniel Frank, der sein Rollendebüt gibt, mit souveräner Höhe und tenoraler Pracht, die er nach dem fiebrigen Konflikt mit Kundry am Ende noch zu steigern versteht. Michael Nagy ist ein Amfortas mit anrührendem Timbre, dem es gelingt, das Leiden des verwundeten Königs packend darzustellen. Als Klingsor imponiert Joachim Goltz mit aufblitzender Aggressivität und der dämonischen Verschlagenheit, die der Charakter des gefallenen Gralsritters verlangt. Luke Stoker ist ein markanter Titurel, dessen dramatische Deklamation Enthüllet den Gral atmosphärisch länger nachhallt.

Kundry, der Schlüsselfigur nicht nur dieser Parsifal-Aufführung, ist es aufgetragen, der gesamten Palette menschlicher und übermenschlicher Empfindungen von der diabolischen über die devote Frau bis hin zur verführerischen Furie Ausdruck zu verleihen. Der Mezzosopranistin Sarah Ferede gelingt dies über weite Strecken, ohne jedoch den Gipfel der stimmlichen Exaltation zu erreichen. Dafür sind Grenzen in der zu bewältigenden Höhe zu vernehmen, die sich auch durch die gewählte Parforce nicht ganz verwischen lassen.

Das Publikum, das schon nach den ersten beiden Aufzügen seiner Begeisterung Ausdruck verliehen hat, überschüttet alle Mitwirkenden mit einem anhaltenden Beifallssturm. Insbesondere GMD Kober und seine Symphoniker, die nach dem Ring-Großprojekt der letzten Jahre erneut ihr Wagner-Format unter Beweis stellen. In der zweiten Aufführung nach der Premiere repräsentiert in den Schlussvorhängen niemand das Regieteam. So bleibt offen, ob der Beifall auch Thalheimers Wagnis der Dekonstruktion einschließt. Das muss kein Manko sein.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Sandra Then

 

| Drucken

Mehr

Kommentare

Loading