Schrecklich schön: Koskys Regie verschiebt die Grenze zu Lasten des Sujets

Xl_1119_orpheusunterwelt_presse_10_foto_hans_joerg_michel © Copyright: Hans Jörg Michel

Orpheus in der Unterwelt Jacques Offenbach Besuch am 6. Oktober 2023 Premiere am 29. September 2023

Deutsche Oper am Rhein Theater Duisburg

Schrecklich schön: Koskys Regie verschiebt die Grenze zu Lasten des Sujets

Richtig teuflisch-schön ist das Finale, das in der Welt spielt, die bereits im Titel von Jacques Offenbachs Epoche machender Opéra-bouffon beschworen wird. Ein überdimensionaler Teufel mit tiefschwarzen Augen radelt auf einem surrealen Riesengefährt, wobei er Funken sprüht und langsam seine Flügel bewegt. Vor dieser ikonographischen Symbolisierung der Unterwelt endet Plutos Fest für die Götter in einem letzten Taumel, der vom Nektar und dem „Höllenballett“, wie Offenbach seinen Cancan nennt, angeheizt wird. Das Spiel der Frivolitäten, Travestien und des infernalischen Vergnügens ist zu Ende. Die erschöpften Akteure sinken zu Boden. Das Publikum jubelt. Die Operette lebt, wenn sie die Grenzen ihrer Vermittlungsformen immer weiter verschiebt.

Orpheus in der Unterwelt, Offenbachs künstlerischer Durchbruch von 1858 am von ihm gegründeten Théâtre des Bouffes-Parisiens, ist im Rahmen einer Wiederaufnahmeserie noch bis zum 18. Oktober im Duisburger Theater zu erleben. Die Ansetzung des Spiels um das schöne Makabre mag ein bisschen quer liegen zur gegenwärtigen von Krisen geprägten Stimmung. Sie könnte freilich gerade deswegen vielen willkommen sein.

Das Stück auf ein Libretto von Hector Crémieux und Ludovic Halévy stellt den Mythos des Orpheus, wie er insbesondere in den Werken von Claudio Monteverdi und Christoph Willibald Gluck verewigt ist, quasi auf den Kopf. Die Handlung treiben zwei Paare voran, Orpheus und Eurydike, die beide ihre Affären haben, sowie Jupiter und Juno, die für jede Frivolität zu haben sind. Orpheus, hier ein mäßig talentierter Geigenlehrer, ist beglückt, seine Eurydike los zu werden, nachdem sie von Pluto in Gestalt des Honighändlers Aristeus in die Unterwelt entführt worden ist.

Die Turbulenzen nehmen richtig Fahrt auf, als sich Jupiter ebenfalls in Eurydike verliebt. Orpheus` Trennung von seiner Frau wird durch das Eingreifen Jupiters perfekt. Eurydike entscheidet sich, als Bacchantin bei den Göttern zu bleiben. Als selbstbewusstes Weib wie Projektionsfläche der Männer. Gegeben wird eine Mischfassung aus den Jahren 1858 und 1874, die sich zu drei Stunden Spielzeit auswächst.

Was das Publikum zu sehen bekommt, ist nicht die Ambition einer Inszenierung, die die Theateratmosphäre und das Flair einzufangen sucht, die Offenbachs Erfindung eines neuen Genres, der Operette, im Paris der auslaufenden Grand Opéra kennzeichnen. Vielmehr erlebt es die Sicht, die Regisseur Barrie Kosky von diesem Werk seit 2019 entwickelt, als seine Inszenierung als erste Offenbach-Operette bei den Salzburger Festspielen überhaupt herauskommt. Eine Sicht, die durchaus eine Erfolgsgeschichte für sich ist, nach umjubelten Aufführungen an der Komischen Oper Berlin mit ihrer speziellen Klientele und im Düsseldorfer Haus der Deutschen Oper am Rhein, wohin die Produktion nach der Duisburger Aufführungsserie am 26. Oktober für eine neuerliche Staffel zurückkehren wird.

Ohne Zweifel bedarf jede heutige Inszenierung des Orpheus einer Bearbeitung, da die zeitkritischen Anspielungen auf Monarchie und Bourgeoisie nicht zu vermitteln und zu verstehen sind. Koskys Offenbach breitet die erotischen, sexistischen und orgiastischen Zusammenhänge der Vorlage wie des Genres mit einer plakativen Unbekümmertheit aus, die die subtilen Zwischen- und Untertöne mehr und mehr verdeckt. Götter sind eben auch nur Menschen und benehmen sich so grässlich schön irdisch, wie Kosky sie versteht.

Im bunten Bühnenbild von Rufus Didwiszus und den phantasievollen Kostümen von Victoria Behr – ein Markenzeichen der Produktion – beherrschen die Versatzstücke einer enthemmten Gesellschaft, Phallus und Vulva, Cunnilingus und Kopulation, die Szene. Auch die Öffentliche Meinung, vehement dargestellt von der Mezzosopranistin Susan Maclean, ist mit ihrer ohnehin leerlaufenden Moral nicht in der Lage, das Abrutschen in das billige Obszöne aufzuhalten. Der Effekt des Verlusts an Kreativität wird noch durch den kaum vermeidbaren Umstand verstärkt, dass sich das Bewegungsrepertoire der vorzüglichen Tänzer ungeachtet der perfekt einstudierten Choreographie früher oder später wiederholt und ermüdet. Koskys Inszenierung würde hier an der einen oder anderen Stelle durch Redundanzen, vielleicht auch Kürzungen an Qualität gewinnen.

Der seit Salzburg geübte Coup des Regisseurs, die Nebenrolle des Wächters John Styx mit dem Schauspieler Max Hopp zu besetzen, ihn in das Zentrum des Geschehens zu rücken und die gesprochenen Texte aller Rollen in allen Szenen artikulieren zu lassen, wozu die Sängerdarsteller adäquat die Lippen bewegen, übt auch auf das Duisburger Publikum große Wirkung aus. Hopp, versiert in diesem Können nach zahlreichen Aufführungen, gelingt es, auch die atmosphärischen Begleitgeräusche hervorzubringen. So die schnellen oder Trippelschritte, knarrende Stiegen oder knallende Türen, das hastige Atmen wie das Schnaufen und Röcheln. Mit Charme und nuancierter Intonation bewältigt er überdies eines der Offenbach-Bravourstücke, das Couplet Als ich einst Prinz war von Arkadien.

Die Verführungskraft von Offenbachs mitreißende Musik wird schon in der sinfonischen Ouvertüre spürbar. Ein besonderes Merkmal sind die teils parodistischen Anspielungen auf Gluck, Nicolo Paganini und – im Finale des ersten Aktes – Gioacchino Rossini, wenn das Sängerensemble und das Orchester vergleichbar einer Spieluhr auf die Worte marchons undpartons monoton auf der Stelle treten. Tänze und Lieder von den Straßen des damaligen Paris kommen vor. Ein Großteil der eingängigen Melodien hat die Güte von Ohrwürmern. Adrien Perruchon, der die Produktion als Gastdirigent begleitet, befeuert die gut aufgelegten Duisburger Philharmoniker in den furiosen Abschnitten, lässt ihnen im Übrigen Raum für das Leichte, das Offenbachs Musik atmet.

Eine Aufführung von Orpheus in der Unterwelt benötigte professionelle Opernsänger, die sich freilich nicht in den üblichen Gesangslinien und Paraphrasen des Genres bewegen. Die besondere Sängerleistung besteht in der gebotenen speziellen Nähe zu den Couplets, die mit dem französischen Chanson verwandt sind, über diese Form aber noch hinausgreifen. Exemplarisch hierfür das brilliante Rondeau des métamorphoses aus dem ersten Akt, das von den einzelnen Solisten, dann vom gesamten Ensemble und dem Chor mehrfach wiederholt wird.

Aus dem Dutzend des Sängerensembles ragt die Eurydike der Elena Sancho Pereg heraus. Sie hat keine Hemmungen, ihren kräftigen Sopran in Kreisch-Höhen zu bugsieren und gibt im Spiel das Äußerste, auch und gerade in den erotischen Passagen. Andrés Sulbarán ist ein agiler spielfreudiger Orpheus. Seine Rolle verlangt von ihm freilich eine gewisse Mäßigung. Als Pluto verschafft sich Florian Simson mit seiner markanten Stimme Raum und Respekt.

Peter Bording ist ein lässig-gekonnter Jupiter. Superb ist sein Zi, zi, zi imDuo de la mouche, womit er das Summen der Fliege nachahmt. In die hat er sich auf der Jagd nach Eurydike verwandelt, um durch das Schlüsselloch in der Tür zu ihr zu gelangen. Katarzyna Kuncio macht als Juno Furore. Sie hadert mit ihrem Mann, dem Schwerenöter Jupiter, sucht und findet Trost im Wein.

Patrick Francis Chestnut hat den Chor auf das Feinste vorbereitet. Er adelt in den großen Levers den Ort des vermeintlichen Schreckens und macht geradezu Lust, die nächste Reise dorthin zu buchen. Dies empfindet auch das Publikum im mäßig besetzten Haus, das alle Mitwirkenden mit großem anhaltendem Jubel bedenkt. Die kommenden Termine reichen bis an den Rand der neuen Karnevalssession. Vielleicht ein Grund, diese Produktion weiter zu empfehlen.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Hans Jörg Michel

 

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