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„Carmen“ in Kassel – Revolutionszelle „Carmen“

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Ilseyar Khayrullova als Titelheldin im Zentrum des Aufruhrs. Anna Kolata
Ilseyar Khayrullova als Titelheldin im Zentrum des Aufruhrs. © Anna Kolata

Staatstheater Kassel: Bizets Oper geht als Kapitalismuskritik ins Leere, trotz der dollen Bühneninstallation „Antipolis“.

Als wegen der Corona-Abstandsregelungen die Not der Theater groß war, dachten sich der damals antretende Kasseler Intendant Florian Lutz und der Bühnenbildner Sebastian Hannak die spektakulär in den Theaterraum hineingebaute Zuschauerinstallation „Pandaemonium“ aus. „Antipolis“ heißt jetzt die neue, noch opulentere – auch die Seitenbühnen mit Publikum auf drei Ebenen umrahmende – Variante, die die Spielzeit im Großen Haus in diversen Bauten prägen soll. Das Grundprinzip der „Gegenstadt“ wird immer sein, das Publikum mit auf die Bühne zu holen – wobei man auch herkömmliche Saalplätze kaufen kann.

Jetzt wurde das drastisch erprobt, indem die Leerfläche zwischen den eingebauten Zuschauer-Baugerüsten vorerst die Fertigungshalle der Zigarettenfabrik war, in der die Titelheldin von Georges Bizets „Carmen“ arbeitet. Ein Teil des Publikums saß mit an den Arbeitstischen, blaue Arbeitskittel und Netzhäubchen für die Haare (in einer Zigarettenfabrik, echt?) lagen bereit. Zusammen mit Chor und Statisterie ein enormes Komparsenmeer.

Es gibt wie damals im „Pandaemonium“ mehrere Nischen zum Spielen, dazu zahlreiche Bildschirme, um das Geschehen für alle halbwegs sichtbar zu machen, Kameraleute sind unterwegs. Lautsprecher kommen zum Einsatz, das begeistert an einem Opernabend nicht, dürfte aber kaum zu vermeiden sein und wirkte geschickt ausgesteuert.

Die Musik, machen wir uns nichts vor, spielte eine untergeordnete Rolle im großen Hallo. Kiril Stankow leitete gleichwohl mit glänzender Übersicht das Orchester, das zentral von hinten aus einen gepflegten, maßvoll süffigen Bizet spielte. Das Ganze ein Experiment mit Gewohnheiten, für das sich eine Oper eignet, in der es viel Fiesta gibt. Ein Moment, der beispielsweise verfängt: wenn im Lokal von Lillas Pastia – dazu Lampions und ein Lichtwechsel, der von der Bühne aus noch imposanter wirkt und aus der Fabrikhalle jäh einen Sommergarten macht – die Stimmung nach Carmens Song aufschäumt. Nicht nur der Chor, sondern auch etliche Zuschauerinnen und Zuschauer hatten rein gar nichts dagegen, ein wenig zu tanzen und mitzuklatschen. Unter anderem wurde Bier gereicht, keine Sorge: alkoholfrei.

Während „Antipolis“ als Ausbruch aus Reglements interessiert, hat Florian Lutz als Regisseur nun allerdings eine bundesrepublikanische Revolutionsstimmung im Sinn. Die Menschen, die (waghalsigerweise) Plätze auf der Bühne bestellt hatten (nach der Pause geht es auch für sie aufs Zuschauergerüst), werden vorab in einem Vorräumchen mit Teppichmuster unserer Jugend vom Verfassungsschutz willkommen geheißen und als V-Leute auf die Bühne weitergeschleust. Eine pompöse Aufgabenstellung, die dann keine weitere Rolle spielte.

Tatsächlich aber soll nun der Gedanke durchgespielt werden, dass Carmen und ihre Vertrauten eine revolutionäre Zelle bilden. Damit man das wirklich kapiert, klären altkluge Mädchen zwischendurch via Bildschirm über Wesen und Problematik der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse auf. Aus den hitzeschlaffen, übergriffigen Soldaten der Oper werden prügelnde Streifenpolizisten. Auch Micaëla ist verwirrenderweise Polizeibeamtin.

Das anarchistische Potenzial Carmens in eine Pussy-Riot-mäßig aussehende, marxistisch informierte Revolutionshaltung zu verwandeln, nimmt der alles andere als harmlosen Geschichte interessanterweise aber alle Sprengkraft. Man merkt es an verlegen verstreuten Flugblättern und den geballten Fäusten, für die der Text fehlt. Man merkt es auch daran, dass Carmens Lieder uninteressant werden, wenn sie bloß der Tarnung dienen. Carmen tarnt sich grundsätzlich nicht. Auf Videos sieht man zwischendurch, wie sie und ihre Truppe die Theatergarderoben plündern. Da fällt einem wieder ein, wie grandios Tobias Kratzer in seinem Bayreuther „Tannhäuser“ Venus im Festspielhaus marodieren ließ.

Lutz’ Carmen hingegen, obwohl Ilseyar Khayrullova Ausstrahlung und Stimme hat, muss hinter der Regietheorie schier verschwinden. Dabei ist sie eine der interessantesten Privatpersonen der Opernliteratur, und indem Lutz und Mechthild Feuerstein sie aller Folklore entkleiden, machen sie den Weg dafür eigentlich frei.

Aldo di Toro als gut sich durch die brutale Partie bahnender Tenor bleibt in dieser Welt zu sehr Vorabendserien-Biedermann, um Carmen ihre Verliebtheit für einen Augenblick abzunehmen. Micaëla bekommt der Beamtenstatus als Figur ebenfalls nicht, Margrethe Fredheim singt und spielt sie einfach so hold und lieb, wie Micaëlas normalerweise singen und spielen. Eine reine Dekor-Entscheidung.

Escamillo, der solide Bariton Filippo Bettoschi, ist kein Torero mehr, sondern Sportler (sein Verein wird von der Zigarettenmarke gesponsert, für die Carmen schuftet, allein der verdammte Kapitalismus hat diesmal seine Finger überall). Der Tod – und „Carmen“, da hilft nichts, ist vor allen Dingen eine Oper über den Tod – hat keinen Platz in dieser Inszenierung. Dass Carmen auch selbst nicht stirbt, hat insofern Logik.

Das Premierenpublikum war auch nach dreieinhalb Stunden noch ganz vergnügt. Es spricht sehr für die Stellung des noch jungen Intendanten in Kassel, dass es seiner arg plakativen Lesart folgte, ohne aufzubegehren. Was wiederum zum Thema gepasst hätte: Wann wird es uns zu dumm, wann ärgern wir uns ernsthaft?

Staatstheater Kassel: 25., 28. Oktober, 3. 24. November. www.staatstheater-kassel.de

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